ILGA-Jahresbericht: EU vs. EU

by ,

Einmal im Jahr bewertet ILGA-Europe die rechtliche, politische und soziale Situation von LGBTIQ*s in den europäischen Ländern und erstellt auf dieser Basis die Rainbow Map und den Rainbow Index. Der wichtigste Befund für das Jahr 2021: Einerseits gab es einen erheblichen Anstieg an Anti-LGBTIQ*-Rhetorik auf politischer Ebene und eine Zunahme von Anti-LGBTIQ*-Hassverbrechen, in vielen Ländern und auf europäischer Ebene ist andererseits aber auch ein entschlosseneres Vorgehen dagegen zu verzeichnen.

Der Jahresbericht der ILGA-Europa dokumentiert jährlich die rechtlichen, politischen und sozialen Entwicklungen in 54 Ländern und 4 europäischen Institutionen (Vereinte Nationen, Europarat, Europäische Union und OSZE). Wir präsentieren euch die Ergebnisse im Überblick. 

Annual Review 2022 – was war schlecht?

Foto: WIktor Szymanowicz / NurPhoto / AFP

Den Tiefpunkt des Jahres 2021 stellte der 15. Juni dar, als Ungarn die „Darstellung und Förderung einer vom Geburtsgeschlecht abweichenden Geschlechtsidentität, der Geschlechtsumwandlung und der Homosexualität“ für Personen unter 18 Jahren gesetzlich verbieten ließ (zum männer* Dossier zu Ungarn geht es HIER).

Aber nicht nur bei den üblichen Verdächtigen Ungarn und Polen, sondern auch in anderen Ländern haben sich Politiker*innen einer queerfeindlichen Rhetorik bedient und LGBTIQ*s dämonisiert, was in ganz Europa zu einem starken Anstieg an Hassverbrechen und Gewalt gegen queere Personen geführt hat. Deutschland verzeichnete beispielsweise einen Anstieg der Hassverbrechen gegen LGBTIQ*s um 39 Prozent (männer* berichtete), in Frankreich hat ein neue App zur Meldung von Hassverbrechen gegen LGBTIQ*s im ersten Jahr über 3.896 Vorfälle registriert.

Weiterhin kam es auch im zweiten Jahr der COVID-19-Pandemie in großem Umfang zu häuslicher Gewalt gegen queere Familienmitglieder. Es gab Morde, Übergriffe, Vergewaltigungen und Polizeigewalt gegen LGBTIQ*s. In Ländern, in denen es zu Polizeibrutalität kam, wurde die Polizei oft nicht zur Rechenschaft gezogen.

Foto: Tobias Schwarz ( AFP

Anti-Gender- und Anti-Trans-Rhetorik ist nach wie vor weit verbreitet und zielt besonders oft auf Jugendliche ab. Das Narrativ „Trans-Rechte gegen Frauenrechte“ bestimmte auch im letzten Jahr die Debatte (männer* berichtete), weshalb Reformen bei der rechtlichen Anerkennung des Geschlechts (legal gender recognition, LGR) in vielen Ländern stagnierte. 

„Die Verbreitung von Anti-LGBTI- und trans-ausschließender Rhetorik, die in diesem Bericht skizziert wird, hat sehr reale negative Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Land für Land sehen wir, wie sie sich negativ auf die psychische Gesundheit und das Sicherheitsgefühl der Menschen auswirkt, auf ihren Zugang zu Beschäftigung und auf die allgemeine Fähigkeit, den dringend benötigten Rechtsschutz voranzutreiben“,

erklärte die geschäftsführende Direktorin von ILGA-Europa, Evelyne Paradis, und betonte in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit, „Politiker, Medien, Wissenschaftler – und leider auch einige Akteure der Zivilgesellschaft – daran zu erinnern, dass in jedem Land der Region das Leben von Menschen auf dem Spiel steht, weil LGBTI-Personen zum politischen Sündenbock gemacht werden“.

Annual Review 2022 – was war gut?

Angesichts der Sündenbock-Mentalität haben nationale Menschenrechtsinstitutionen und Gerichte in vielen Ländern begonnen, den Schutz der Rechte von Queers zu verstärken. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Jahr mehrere positive Urteile zu Hassverbrechen, Versammlungsfreiheit, LGR und Familienrechten gefällt.

Foto: Michal Cizek / AFP

Das bei weitem stärkste Engagement für die Menschenrechte von LGBTIQ*s erfolgte auf der Ebene der Europäischen Union, als die Europäische Kommission im Juli sowohl gegen Ungarn als auch gegen Polen ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnete (männer* berichtete). Das Europäische Parlament verabschiedete außerdem eine Resolution, in der das Ziel der Europäischen Kommission, in mehreren Bereichen Rechtsvorschriften zum Schutz von LGBTIQ*s vorzuschlagen, nachdrücklich unterstützt und deren Nichteinhaltung durch Mitgliedstaaten verurteilt wird (männer* berichtete).

Katrin Hugendubel, Advocacy Director bei ILGA sagte, der Bericht spreche auch für „ein beispielloses Jahr in Europa, in dem regionale und nationale Institutionen und Gerichte ihre Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechten von LGBTI-Personen mit größter Ernsthaftigkeit wahrgenommen haben, während die Instrumentalisierung von Hass gegen LGBTI-Personen für politische Zwecke und zur Machterweiterung nun ganz klar eskaliert“.

„Der Vormarsch der Instrumentalisierung des Hasses gegen eine Minderheit zu politischen Zwecken, den wir in der Geschichte immer wieder erlebt haben, muss in der gesamten Region mit verbündeter Entschlossenheit angegangen und gestoppt werden.“

Aus dem Jahresbericht geht auch hervor, dass die staatlich geförderte Anti-LGBTIQ*-Rhetorik und -Gesetzgebung nicht mit der öffentlichen Meinung übereinstimmt. Die Unterstützung für queere Personen war noch nie so groß. In Ungarn beispielsweise ergab eine Umfrage, dass 73 Prozent der ungarischen Bevölkerung die falsche Behauptung der Regierung zurückweisen, Schwule und Lesben würden Kinder missbrauchen oder schädigen. Eine deutliche Mehrheit der ungarischen Gesellschaft (74,5 Prozent) ist der Meinung, dass trans* Personen die Möglichkeit haben sollten, ihr Geschlecht und ihren Namen in ihrem offiziellen Dokument zu ändern, während 59 Prozent die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützen. In Serbien kennt einer Umfrage zufolge kaum jemand trans* Personen, dennoch sprechen sich 60 Prozent dafür aus, sie vor Diskriminierung zu schützen. In Rumänien sind 68 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass alle Familien, einschließlich Regenbogenfamilien, geschützt werden sollten, während in Bulgarien 40 Prozent angeben, eine Partei zu unterstützen, die sich für LGBTIQ*s einsetzt.

Soudeh Rad, Ko-Vorsitzende des ILGA-Europa-Vorstandes, erklärte, in den positiven Ergebnissen spiegele sich die Stärke und Wirksamkeit der von der Zivilgesellschaft und der LGBTIQ*-Bewegung geleisteten Arbeit wider. Dennoch dürfe man 

„nicht die Kämpfe vergessen, mit denen Aktivisten in ganz Europa und Zentralasien konfrontiert sind, wenn es darum geht, eine Welt zu verwirklichen, in der jeder sein Menschenrecht, ganz er selbst zu sein, genießen kann“.

Länderranking

Grafik: https://www.rainbow-europe.org/country-ranking

Zur Bewertung für den Rainbow Index und die Rainbow Map erfasst ILGA-Europe jährlich die gesetzlichen Standards aller 49 europäischen Länder in sechs Kategorien („Gleichheit und Nichtdiskriminierung“, „Familie“, „Hassverbrechen und Hassreden“, „Rechtliche Anerkennung des Geschlechts und körperliche Unversehrtheit“, „Zivilgesellschaftlicher Raum“ und „Asyl“), vergleicht diese hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die queere Community mit den europäischen Nachbarländern und stuft alle Länder auf einer Skala zwischen 0 Prozent (grobe Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung) und 100 Prozent (Achtung der Menschenrechte, vollständige Gleichstellung) ein. So gibt der Jahresbericht von ILGA-Europe einen differenzierten und detaillierten Überblick über die Fortschritte eines jeden Landes und dessen Entwicklung auf internationaler Ebene.

Mit 94 Prozent liegt Malta im Länderranking wieder auf Platz 1, gefolgt von Dänemark mit 79 Prozent und Belgien mit 74 Prozent.

Was hat sich in Deutschland getan?

Irland und Deutschland haben im Länderranking die Plätze getauscht. Während Deutschland im vergangenen Jahr noch auf dem 16. Platz lag, nimmt es nun Platz 15 ein. Das ist jedoch einer Verschlechterung der Situation in Irland geschuldet – Deutschland erfüllt nach wie vor 52 Prozent der von ILGA-Europe aufgestellten Kriterien für eine komplette Gleichstellung von LGBTIQ*-Personen. HIER kann der detaillierte Bericht zur Situation in Deutschland heruntergeladen werden.

Grafik: https://www.rainbow-europe.org/#8635/0/0

Um die rechtliche und politische Situation von LGBTIQ*s in Deutschland zu verbessern, empfiehlt ILGA-Europe weiterhin die

Back to topbutton