GASTKOMMENTAR: QUO VADIS HEIKO MAAS?

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Der Historiker Alexander Wäldner sieht die geplante Rehabilitierung der sogenannten 175er kritisch. Viele Opfer des „Schwulenparagraphen“ würden weiterhin ignoriert. Er fordert ein vollumfängliches Vorgehen. 

Grafik: Franz Gstaettner/CC BY-SA 3.0

Ist es ein Sommermärchen oder ein Sommerloch, welches den Bundesjustizminister dazu verleitet, jetzt tätig zu werden und die Aufhebung der Verurteilungen nach § 175 StGB in der Bundesrepublik bis 1994 vorzubereiten? Oder handelt es sich dabei um den Versuch, der grünen Opposition in diesem Punkt das Wasser abzugraben? Womit will er die Mehrheiten im Bundestag erreichen?

Dass Homosexualität unter Erwachsenen auch in Deutschland einmal strafbar war, wissen die meisten jüngeren Menschen höchstens aus Erzählungen älterer Männern, oder wenn es in der Szene ausnahmsweise zur Sprache kommt. Viele vergessen viel zu gerne, dass es erst 1994 im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu einer Rechtsangleichung kommen musste, und dass es ausgerechnet die CDU-Regierung unter Helmut Kohl war, die diesen Paragraphen für immer tilgte: Die DDR hatte bereits in den 1980er Jahren die Strafbarkeit von Homosexualität völlig abgeschafft, so dass hier der gesamtdeutsche Gesetzgeber gefragt war.

Ohne als Historiker zu sehr mit Geschichte zu langweilen: Mit der ersten Einigung aller deutschen Staaten ohne Österreich im Kaiserreich ab 1870/71 wurde der preußische Paragraph 175 in das Reichsstrafgesetzbuch übernommen. Zuvor hatte es allerdings in einigen deutschen Ländern bereits liberale Gesetze gegeben. Die Dominanz Preußens wirkte sich hier verschärfend aus. Diese Rechtsprechung überdauerte auch die Weimarer Republik, bis die Nationalsozialisten 1935 die Strafgesetzgebung gegenüber männlichen Homosexuellen massiv verschärften und die Strafbarkeit ebenfalls massiv ausweiteten: War vorher in der Regel nur der beischlafähnliche Verkehr strafbar, genügte jetzt bereits ein flüchtiger Blick oder eine zärtliche Berührung, um drakonische Strafen zu erleiden. Mit der Errichtung von Konzentrationslagern wurden nach und nach auch wegen homosexueller Handlungen verurteilte Männer rechtswidrig dorthin verbracht. Tausende überlebten diese Torturen nicht.

1945 bemühten sich die Alliierten darum, typisch NS-lastige Gesetze zu löschen, doch der § 175 blieb in Westdeutschland bis 1969 unverändert bestehen. Mit der Folge, dass in der flächenmäßig kleineren westdeutschen Bundesrepublik genauso viele Männer verurteilt wurden, wie im größeren Reich zuvor, nämlich fast 50.000 Männer. Noch 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung zum NS-Paragraphen. Der Bundesgerichtshof hingegen hat sich inzwischen bei den Roma und Sinti entschuldigt – und das Bundesverfassungsgericht? Es schweigt hierzu, wenngleich es sich Stück für Stück für das Lebenspartnerschaftsgesetz eingesetzt hat – obwohl es sich auch hier wiederum um eine Sondergesetzgebung für Homosexuelle handelt.

Und dennoch: Die Liberalisierung 1969 bedeutet lediglich, dass Homosexualität unter Erwachsenen straffrei wurde. Sexuelle Handlungen zum Beispiel eines 22-Jährigen mit einem 20-Jährigen blieben strafbar und wurden weiter akribisch erfasst und verfolgt. Und auch „Rosa Listen“ gab es weiter, immer unter dem Deckmantel des Jugendschutzes. Als ich Ende der 1980er Jahr in Hannover mein Coming-out hatte, waren Telefonlisten von schwullesbischen Jugendgruppen bei Polizei und Jugendschutzbehörden noch immer sehr begehrt.

2002 wurden die Urteile nur nach §§ 175, 175a4 aus der NS-Zeit kassiert. Doch es ist leider nur die halbe Wahrheit: Die Verurteilungen nach § 175a3 waren mit Einzelfallentscheidungen auf Antrag zu rehabilitieren, eine Prozedur, die mangels überlieferter Urteile schier unmöglich erscheint. Jedenfalls sind mir keine derartigen Anträge bekannt geworden. Da die allermeisten KZ-Opfer nach § 175a verurteilt worden waren, blieben diese erneut außen vor – genau, wie es keine Entschädigung nach 1945 für sie als KZ-Insassen gab und bis heute gibt.

In den neuen Bestrebungen sollen offenbar nun ebenfalls nur die „einfachen“ Urteile aufgehoben werden. Wieder wird wohl für die „schwereren“ Fälle nach § 175a auf Einzelfallentscheidungen verwiesen. Zudem soll die Rehabilitation nur zwischen 1945 und 1994 vorgenommen werden. Was aber ist mit den Verurteilten vor 1935? Warum werden diese weiterhin als rechtmäßig vorbestraft angesehen?

Ich trete dafür ein, jede Strafbarkeit weiblicher und männlicher homosexueller Handlungen zwischen 1871 und 1994 aufzuheben. Denn auch die Urteile vor 1935 oder nach 1969 brandmarkten vor allem jedwede mann-männliche Sexualität.

Mein Vorschlag für den Deutschen Bundestag lautet daher:

„ Der Deutsche Bundestag hebt alle Verurteilungen des § 175 und seiner Nebengesetze auf, die während der Geltungsdauer zwischen 1871 und 1994 ergangen sind. Der Bundestag bedauert die staatliche Verfolgung von Männern aufgrund homosexueller Handlungen und rehabilitiert sie mit diesem Gesetz. Er entschuldigt sich für jedwede staatliche Sanktionierung gleichgeschlechtlich-sexueller Handlungen gegenüber den betroffenen Frauen und Männern.“

Kritiker mögen mir jetzt vorwerfen, dass ich Handlungen mit sehr jungen Männern oder bei Gewaltandrohung auch mit rehabilitieren möchte. Denen kann ich erwidern: Formuliert doch das „§-175-Aufhebungsgesetz“ so eindeutig, dass der Wille des Gesetzgebers, 123 Jahre langes Unrecht zu rehabilitieren, eindeutig hervorgeht. Formulierungsvorschläge werden gerne gesehen, sicherlich auch im Bundesjustizministerium?

Alexander Wäldner, Historiker, forscht seit mehr als 15 Jahren zur Verfolgung zur Verfolgung von Lesben und Schwulen im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland

Anmerkung: Text von Manfred Bruns gegengelesen.

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