#Interview • Genschere, mRNA und Wirkstoffdepots: Paradigmenwechsel in der HIV-Therapie

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Ein Nebeneffekt der aktuellen Pandemie mit dem neuen Corona-Virus und seinen Varianten: auch ein bisher für diese Thematik unerreichten Anteil der Gesellschaft nimmt – sozusagen hautnah – an wissenschaftlichen Prozessen der forschenden Institute und Pharma-Unternehmen teil. Der Wissensdurst ist groß. 40 Jahre sind vergangen, seit das HI-Virus und damit der Auslöser von AIDS entdeckt wurde. Bis heute ist er nicht grundsätzlich besiegt worden. HIV-Aktivist und -Fachmann Siegfried Schwarze vom „Projekt Information e. V.“ im Gespräch über die neuesten Entwicklungen in der HIV-Forschung und ihren möglichen Impact für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung.

Im Frühling riefen wir gemeinsam mit dir dazu auf, die Chance der virtuellen Konferenzform doch zu nutzen und sich die „11th IAS Conference on HIV Science“ anzuschauen. Nun sind die Zugriffe auf die Streams eher verhalten. ...

Ich weiß nicht, ob man sich das als Ottonormalverbraucher*in wirklich antun muss oder soll. Wenn dann nur sehr selektiv. Deshalb hatten wir im Frühling ja auch Schwerpunkte empfohlen.

Gentechnik

„Die Gentherapie ist auf dem Sprung vom Labor in den Alltag.“

Hat dich ein Thema überrascht?

Der Grundlagenvortrag zur Gentherapie. Mir war nicht bewusst, dass weltweit zehn Gentherapien zugelassen sind. Von zwei oder drei wusste ich, aber dass es schon zehn sind, war mir selbst neu. Und das führt mich auch gleich zu dem was, für mich eines der Highlights der Konferenz war: Die Gentherapie ist auf dem Sprung vom Labor, von den klinischen Studien in den Alltag. Das ist etwas, was fast ein bisschen unbemerkt von der Öffentlichkeit geschieht. Vielleicht auch so geräuschlos, weil gentechnologische Methoden durch Corona eine breitere Akzeptanz finden? Mit dem Begriff mRNA-Impfstoff kann heute ja zum Beispiel jeder etwas anfangen. Es ist tatsächlich so weit:

Es beginnen die ersten gentherapeutischen Studien am Menschen zu HIV. Teilweise auch zum Thema Heilung.

Als Therapieaktivist muss ich allerdings sagen, dass mir da einiges auch zu schnell geht. Wie wir Europäer das finden, ist aber letztendlich egal. 

Wer gibt den Schritt vor? 

Die USA und vor allem auch China brechen auf und preschen auf dem Gebiet voran, als gäbe es kein Morgen. Wie gesagt, man kann das finden, wie man will. Es passiert und es wird spannend sein, mit welchen Ergebnissen. 

Welche Methoden werden jetzt am Menschen erforscht? 

Der eine Ansatz besteht darin, den Rezeptor, den HIV zum Eindringen in die Zelle benutzt, mit gentechnologischen Methoden sozusagen zu zerstören. Das war im Prinzip das, womit Timothy Brown geheilt wurde. Bei ihm wurde es durch eine Stammzelltransplantation gemacht, die für eine breite Anwendung unter anderem nicht anwendbar ist, weil sie einfach zu riskant ist. Die Idee ist, diesen Rezeptor nicht dadurch wegzubekommen, dass man dem Menschen ein komplett neues Immunsystem verpasst, sondern gezielt diesen Rezeptor auszuschalten. Der anderer Ansatz ist die berühmte Genschere. Also der Versuch, HIV per Enzym aus infizierten Zellen herauszuschneiden. Dieser Ansatz wird von mehreren Forscher*innen mit unterschiedlichen genetischen Werkzeugen verfolgt. 

Foto: Thomas Splettstoesser (www.scistyle.com) / CC BY-SA 4.0 / wikimedia.org

Bundesweite Aufmerksamkeit erregte vor ein paar Jahren ein solches Forschungsprojekt des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und des Heinrich Pette-Instituts, Leibniz-Instituts für Experimentelle Virologie (HPI) ... 

Genau. Die Arbeitsgruppe um Professor Hauber arbeitet mit einem, ich sage mal  im weitesten Sinne sehr zickigen Enzym, das dafür aber extrem genau ist: Brec1. Die amerikanische Arbeitsgruppe setzt auf die inzwischen recht geläufige CRISPR/Cas-Methode, die zwar sehr einfach zu handhaben ist, aber eine relativ große Fehlerhäufigkeit hat. 

Deswegen deine Bedenken? 

Wenn ich mir an meinen Immunzellen rumbasteln lassen würde, hätte ich Bauchschmerzen damit, ein fehleranfälliges Enzym zu wählen. Aber wie gesagt: Es wird gemacht. Es wird natürlich unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen gemacht. Das heißt, man nimmt erst relativ wenige Patient*innen und auch nicht alle auf einmal. Zuerst bei einem, wartet eine Zeit, ob alles gut geht, und dann nimmt man einen zweiten rein und so weiter. Aber trotzdem glaube ich, dass das für die Betroffenen ein nicht zu unterschätzendes Risiko ist.

Daher finde ich es um so wichtiger, dass diese Sachen von der Community aufmerksam verfolgt und begleitet werden.

Das verlangen übrigens auch die Zulassungsbehörden: Die wollen jetzt alle bei diesen Studien eine Patient*innenvertretung mit an Bord haben. Das ist ein guter Fortschritt. 

Ein Risiko, das Tradition hat: Wo wäre die HIV-Therapie ohne freiwillige – so muss man leider fast sagen – Versuchskaninchen? 

Richtig, aber! Mittlerweile gibt es so viele Studien in der Richtung und darunter auch einige, wo von Anfang an eigentlich völlig klar ist, dass die nix werden. Die aber trotzdem durchgeführt werden, weil es dafür Forschungsgelder gibt. Vor allem in Amerika gibt es natürlich eine Situation, wo jetzt auch durch Covid viele Labors, viele Klinikabteilungen Existenznöte haben.

Und wenn die einen Forschungsantrag machen, wo „Heilung von HIV“ draufsteht, dann gibt es halt Kohle.

Man kann den Leuten ja gar keinen Vorwurf machen. Die haben Frauen und Kinder und so weiter: Wenn du der Institutsleiter wärst und sagst, „ich habe so und so viel Mitarbeiter zu versorgen. Wenn ich jetzt diesen Antrag stelle, weiß ich genau, es wird nichts, aber ich kriege damit Kohle für die nächsten zwei, drei Jahre“, da ist die Versuchung natürlich groß.

Auf der anderen Seite ist dabei die Gefahr, dass wir die Freiwilligen, die wir in der HIV-Community haben, ohne Sinn und Zweck verbrennen. 

Inwiefern? 

Oft ist es in diesen Studien so, dass du, wenn du schon mal Probant*in einer Heilungsstudie warst, nicht mehr an einer weiteren teilnehmen kannst. Die Zahl der Menschen die für so eine Studie infrage kommen, ist limitiert. 

Impfstoffsuche

„Uns gehen so langsam die Ideen aus.“ 

Siegfried Schwarze

Vermutlich auch wegen Covid ploppt wieder die Suche nach einem Impfstoff auf. Wie schätzt du die Chance ein, nicht nur preppen zu können, sondern sich impfen lassen zu können? 

Man man muss ganz ehrlich sagen, dass uns so langsam die Ideen ausgehen, wie ein Impfstoff gegen HIV aussehen könnte. Die klassischen Methoden einen Impfstoff zu generieren, die bis jetzt bei allen anderen Erkrankungen außer Hepatitis C – das ist auch so ein Problemfall – gut geklappt haben, versagen bei HIV. Es gibt zwei Hauptprobleme. Das eine Problem ist, dass es bei HIV kein natürliches Vorbild gibt. Das heißt, es gibt keinen Menschen, der sich mit HIV infiziert hat, diese Infektion aus eigener Kraft überwunden hat und danach immun war gegen eine neue Infektion.

Immer wenn es kein natürliches Vorbild gibt, ist die Frage, ob wir das überhaupt schaffen. Wie schon bei Hepatitis C.

Wir wissen auch da, dass es Menschen gibt, die die Infektion selbst überwinden, aber die sind nicht resistent gegen eine neue Infektion. Auch bei Hepatitis C ist es bis heute nicht gelungen, eine Impfung hinzubekommen. Hinzu kommt bei HIV, dass es als erstes genau die Zellen infiziert und abtötet, die wir für eine Abwehr bräuchten. Ich sage es immer so:

HIV ist der Brandstifter, der als erstes die Feuerwehrzentralen anzündet, sodass dann niemand mehr da ist, der kämpfen könnte.

Die Konzepte, die jetzt mit mRNA verfolgt werden, die waren tatsächlich schon länger in der Pipeline. Dass die jetzt so „aufploppen“, wie du sagtest, liegt hauptsächlich daran, dass die mRNA-Forschung natürlich durch Corona dramatisch beschleunigt wurde.  

Worum geht es da im Prinzip? 

Darum, Antikörper zu produzieren, die ganz wenige Menschen natürlicherweise produzieren. Die sogenannten „Elite Controller“. Von dieser Gruppe von HIV-Positiven kann ein ganz kleiner Prozentsatz HIV in Schach halten, weil sie spezielle Antikörper bilden. Der Trick mit den mRNA-Impfstoffen ist, praktisch nicht einen Impfstoff zu geben, sondern verschiedene Impfstoffe hintereinander. Die sollen das Immunsystem langsam in die Richtung dirigieren, bis es dann tatsächlich diese breiten, neutralisierenden Antikörper bilden kann. In einer Weise, wie es natürlicherweise nicht geschehen würde. Ob das möglich ist, ob das funktioniert ist, ist völlig offen. 


HIV-Therapie

„Wir erleben momentan einen Paradigmenwechsel.“ 

Was gibt es Neues in der HIV-Therapie? 

Was die HIV-Therapie anbelangt, erleben wir momentan einen Paradigmenwechsel. Das Wort ist viel strapaziert, aber wir haben seit Mai dieses Jahres die ersten wirklich langwirksamen Therapien mit der Depotspritze auf dem Markt, die alle zwei Monate gegeben wird. Und das ist nur der Anfang! Es laufen im Moment bereits Studien von oralen Therapien, also Tabletten, die nur einmal pro Woche gegeben werden müssen bzw. einmal pro Monat. Ob das ein tatsächlicher Fortschritt ist, bleibt abzuwarten. Es muss geklärt werden, ob nicht das dann tendenziell eher vergessen wird, als die Pille einmal täglich. Und wenn man die Pille dann vergessen hat, wie ist zu reagieren? Das sind teilweise ganz komplexe Regeln. Auch was die injizierbaren Therapien anbelangt, wäre es noch schöner, wenn sich das mit dem normalen Untersuchungsabstand, also alle drei Monate oder alle sechs Monate decken würde.

Foto: Anna Shvets / Pexels

Und? 

In den USA ist Lenacapavir, das unter die Haut gespritzt wird, bereits in der Zulassung für die Gabe alle sechs Monate. Implantate für die jährliche Gabe sind auch in Entwicklung und erst im Herbst wurde bekannt, dass eine Firma ein Patent angemeldet hat, wo die bisherigen Substanzen, die alle zwei Monate gespritzt werden, in einer neuen Formulierung gespritzt werden. Dadurch sind größere Mengen möglich, die dann zusammen mit der Körperflüssigkeit so eine Art Gel ergeben, was dann im Gewebe ein Depot bildet und nur alle paar Monate bis einmal im halben Jahr – möglicherweise sogar nur einmal im Jahr gespritzt werden muss. „Long acting“, wie es so schön heißt, also lange Wirkungszeit der Substanzen wird das neue Therapieschema werden.

Bisher war der Standard „eine Pille einmal täglich mit allen Wirkstoffen“, dabei wird es nicht bleiben.

Die Firmen suchen natürlich immer nach Möglichkeiten, um das weiterzuentwickeln. Ob das immer günstig ist für Patient*innen und für die Krankenkassen, das ist eine andere Frage. Aber das ist die Richtung, in die der Zug momentan fährt und es wird sehr spannend sein, das zu beobachten. 

Was bedeutet das ganz allgemein für die Gesundheitsversorgung? 

Die HIV-Therapie ist wieder mal Trendsetter. Es ist doch klar: Wenn es bei HIV funktioniert, dann wird es auch in andere Therapiegebiete Einzug halten. Ich kann mir vorstellen, dass auch Menschen, die täglich ihre Blutdrucktablette einnehmen müssen oder ihren Cholesterinsenker dankbar wären, wenn sie stattdessen einmal im halben Jahr eine Spritze kriegen. 

*Interview: Christian Knuth

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