#Interview • Grundbedürfnis Sexualität ­– Nähe in Zeiten von Isolation

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Die COVID-19-Krise trifft einen Bereich schwulen Lebens ins Mark: das Sexleben. Besonders in den sozialen Netzwerken scheint es nur noch zwei Seiten zu geben. Die einen gerieren sich als teflonbeschichtete Ignoranten, die anderen als argumentativ bis an die Zähne bewaffnete Moralblockwarte. Was macht Corona mit der Sexualität, was kann besonders schwuler Mann lernen, was droht eventuell für die Zeit danach. Wir sprachen mit Sexualpädagoge (gsp) Marco Kammholz aus Köln.

Corona und Sex, geht das überhaupt?

Sexualität ist nicht vollends aus dem Leben verbannt und das ist erfreulich! Verändert haben sich ganz sicher das Sexualverhalten und die Phantasien vieler Menschen. Frequenz, Partnerwahl, Praktiken, Gespräche über und Aushandlung von Sex, das Erleben von Intimität, all das findet aktuell unter völlig außergewöhnlichen Bedingungen statt. Das betrifft unweigerlich den sexuellen Alltag und die sexuellen Abenteuer, auch von schwulen und bisexuellen Männern.

Manche haben gerade keinen Sex mehr oder nur noch mit einem Partner. Anderen ist ob der Umstände schlichtweg die Lust oder Potenz vergangen. Manche wählen genauer aus oder schlafen vor allem mit sich selbst. Viele ändern nun gezwungenermaßen ihr Datingverhalten. Man kann, auch wenn’s das Vögeln nicht ersetzt, tatsächlich immer noch masturbieren, Pornos schauen, Camsex machen und sich Sexting widmen. Oder sich in einer bzw. bestimmten ausgewählten sexuellen Beziehungen ausleben.

Foto: Christian Buehner / unsplash / CC0

In den offiziellen Regelungen geht es darum, alle nicht notwendigen Kontakte einzustellen. Nun ist die spannende Frage: Zählt die Befriedigung des sexuellen Grundbedürfnisses zu den notwendigen Kontakten? Und wenn ja, in welcher Form und mit wem? Es gibt viele Menschen, die ohne Probleme eine längere Zeit auf Sex verzichten, ganz ohne Corona-Krise. Aber alle müssen sich plötzlich neu mit ihrer Partnerschaft, ihren Affären oder ihren Beziehungskonstellationen, mit der Organisation ihres Sexlebens und der Äußerung ihrer sexuellen Wünsche beschäftigen.

„Wer sexuelle Wünsche und Phantasien verbietet, handelt tyrannisch und hochgradig unsozial.“

In einem Interview hatte der medizinische Referent der Deutschen Aidshilfe (DAH) schwulen Analverkehr und schwule Saunen problematisiert. Sogar queere Medien interpretierten das als „DAH warnt vor Analsex und Saunen“. Hast du eine Erklärung für die um sich greifende Sexfeindlichkeit, die leider auch homophobe Ressentiments bedient?

Ich denke, wir erleben im Moment, wie wir uns von anderen körperlich distanzieren müssen, und das betrifft Sexualität dann auch. Feindlichkeit ist dafür nicht unbedingt nötig, aber sie ist derzeit spür- und sichtbar. Ich halte die Empfehlungen der DAH – zumindest nach dem aktuellen Wissensstand – für nachvollziehbar, sofern man sich auf die medizinische Dimension dieser Maßnahmen konzentriert. Dennoch sind sie bizarr.

Die DAH steht, wie viele schwule Angebote, für eine Haltung, die informierte, individuelle Risikoabschätzung, egal bei welchem Sexualverhalten, unterstützt. Dazu zählt auch die Entstigmatisierung promisker Lebensweisen oder die Bejahung von flüchtigen Sexualkontakten als legitime Lustbefriedigung. Insgesamt also für einen liberalen Umgang mit Sexualität. Ich glaube, die jetzige Situation stellt diese Ansätze auf die Probe. Daher auch die Irritation über die Empfehlung der DAH, sich sexuell im Moment eher zu mäßigen, anstatt auch Auskunft zu geben, wie man weiter sexuell aktiv sein kann.

Aus medizinischer Sicht mag es naheliegend, aus epidemiologischer notwendig erscheinen, Menschen zu sexuellem Verzicht aufzufordern, wir wissen aber, dass die sexuellen Bedürfnisse diesen Anforderungen eben nicht immer entsprechen. Vielmehr gehen sie in den präventiven Schutzmaßnahmen nie vollständig auf, sondern treten mit ihnen in Konflikt. Sowie die Leute gerade weiter Lust auf Sex und Dates haben und das auch tun. Spannend finde ich wirklich: Man muss sich jetzt ziemlich genau überlegen, mit wem man in seinem minimierten sozialen Umfeld welche sexuellen Kontakte eingeht.

Also ist ein Quasisexverbot nicht realistisch?

Ich denke, das geht gar nicht – und das hat die DAH mit den Beispielen Darkroom und Sauna hoffentlich auch nicht gemeint. Ein „Sexverbot“ wäre auch nicht sinnvoll, sondern vielmehr absurd. Es zeigt sich doch bereits jetzt, dass eher mehr als weniger Sex stattfindet, vor allem in den Partnerschaften. Die sexuellen Handlungen sind auch gar nicht unbedingt das Entscheidende oder Besondere. Während wir bei HIV wissen, dass die Übertragung durch direkten Kontakt der Schleimhäute, also beim Sex zum Beispiel, stattfinden kann, ist es bei Corona so, dass wir Zurückhaltung im Kontakt mit Menschen ganz allgemein üben sollen, um eine Infektion zu vermeiden.

Es bleibt für mich trotzdem die Frage, warum nicht Swingerklubs oder Bordelle dann im gleichen Atemzug genannt werden ...

Sexualität und Körperlichkeit ist verunsichernd und verängstigend, nun kommt hinzu, dass der eigene Körper und der des Anderen massiv als potentieller Virusträger markiert und problematisiert wird. Wenn es einem derzeit nicht gelingt, über die eigene Verletzlichkeit und Angst nachzudenken, läuft man also Gefahr, die eigene Verzweiflung permanent in anderen zu sehen und sie darin zu bekämpfen. Die Situation verlangt in psychischer Hinsicht enorm viel von den Menschen ab. Für Schwule vielleicht ganz besonders.



Ich habe den Eindruck, in diesen sehr harschen und böswilligen Kommentaren in sozialen Medien, die sich gegen alle richten, die weiterhin Sex haben, suchen oder wollen, melden sich doch auch die sexualhygienischen Zumutungen zu Wort, von denen wir alle seit Aids betroffen sind. Das schließt auch den Kreis zu den schwulenfeindlichen Ressentiments, vom dauergeilen und potenten schwulen Mann, der sich nicht zügeln kann und zugleich besondere Verantwortung zeigen soll. Auch dieser Figur bedient man sich.

Der gestern noch gefeiert wurde von Menschen, die ihn heute Teeren und Federn wollen ...

Genau. Dieser als omnipotent phantasierte schwule Mann wird gleichzeitig verteufelt und bewundert. Corona ruft ernstzunehmende Erinnerungen an die Zeit von Aids wach, in denen jeder sexuelle Kontakt zu einem anderen Mann zu etwas fraglichem, gefährlichem wurde.

Martin Dannecker weist darauf hin, dass Aids insbesondere das Verhältnis der Schwulen zu ihrer Sexualität verändert hat. Dazu zählen auch Schuldgefühle und moralische Maßstäbe gegenüber sexuellen Wünschen, kondomlosem Sex, Promiskuität, Sperma oder Blut. Die Aids-Ära und die Corona-Pandemie unterscheiden sich selbstverständlich voneinander und dennoch ist die Mobilisierung solcher Gefühle und Ängste im Moment erlebbar.

In den Sexforen, Apps und sozialen Medien äußern nicht wenige, dass sie nun gar keinen Sex, keinen Sex mit Fremden oder keinen Sex mit mehreren Männern mehr haben würden und legen das implizit oder explizit anderen nahe. Geschieht das aggressiv und verurteilend, steckt mehr dahinter als die bloße Entscheidung, sich an Hygiene-Empfehlungen zu halten, die im Übrigen ja auch keinen Sex untersagen.

 „An der öffentlichen Erklärung des Verzichts auf sexuelle Kontakte oder Sexdates haftet etwas Tragisches.“

Was meinst du damit?

Ich denke, diese mitunter plakativ vor sich her getragene Bereitwilligkeit, auf die eben noch gelebte sexuelle Selbstverwirklichung zu verzichten, ist ebenso eine Form der Verdrängung, wie wenn man die virale Bedrohung leugnet. An der öffentlichen Erklärung des Verzichts auf sexuelle Kontakte oder Sexdates haftet etwas Tragisches: Es wird so getan, als wolle man diesen Verzicht und könne ihn geradezu genießen. Warum sucht man denn dann Dating-Apps auf? Warum trägt man die Abstinenz so entschieden vor sich her?

Eine angemessene Reaktion wäre, wie ich denke, doch zumindest auch Traurigkeit, wenn nicht sogar Empörung über das was einem fehlt, was einem genommen wird. Wünsche und Bedürfnisse nach körperlicher Nähe zu formulieren, nach Erotik, nach hautenger Sinnlichkeit – die übrigens überlebensnotwendig sind. Dass das wenig passiert, zeigt für mich, wie unverfeinert wir immer noch über sexuelle Wünsche und Bedürfnisse kommunizieren.

Es wäre viel wichtiger, dass wir gerade über die Einschränkungen sprechen, wie sie uns belasten, oder auch über die Scham und Angst, wenn wir sie nicht einhalten können oder wollen. Und auch darüber wie wir sexuelle Begegnungen und Wünsche - welcher Art auch immer - erleben. Das wären doch die interessanten Themen, anstatt pastoralen Psychoterror aufeinander auszuüben.

Ist das der gleiche Mechanismus, der zum Beispiel bei Kondomnutzern gegenüber PrEPern – und andersherum bei PrEP-Nutzern, die Kondomnutzer stigmatisieren – anfangs massive Wut ausgelöst hatte?

Man kann beobachten, dass mit der gleichen Entschiedenheit, mit der  vorher für freie Sexualität oder auch die PrEP eingetreten wurde, nun aufgefordert wird, jeglichen sexuellen Kontakt zu unterlassen. Bis hin dazu, dass die bloße Formulierung des Wunsches nach Sexualität schon problematisiert wird. In all diesen Debatten – um die PrEP oder nun die Schutzmaßnahmen gegenüber Corona – wird auch sexualmoralisch argumentiert. Ob es in dieser Hinsicht ein vor und nach Corona geben wird, bleibt abzuwarten. Manches deutet darauf hin.

Wie meinst du das?

Das Coronavirus berührt die Grundfesten unseres sozialen Miteinanders. Die Situation ist widersprüchlich und verlangt einem hochgradig Gegensätzliches ab. Eine Aufforderung ist es, den anderen – immer auch sexuellen - Körper zu meiden und dadurch zu schützen. Eine Reaktion auf diesen Verzichtszwang kann aber gerade die Sexualisierung sein. Man könnte sozusagen die ganze Welt ficken, weil man sich niemandem nähern kann. Fürsorglich ist auf einmal der Verzicht auf Nähe und diese Fürsorglichkeit soll in einem großen kollektiven Einvernehmen geschehen. Man wird vereinzelt, um Teil eines großen Ganzen zu sein. Diese Aufforderung, Teil einer Masse zu sein, verstärkt den Wunsch nach Zweisamkeit. Den Wunsch zum Beispiel bei einem anderen sexuell aufgehoben zu sein. Denn das entlastet von den Zumutungen der Gruppe. Geilheit könnte also vielmehr die angemessene Reaktion auf die außergewöhnliche Situation sein, sie kann aber eben – wegen Corona - nicht so umgesetzt werden. Wie geht man nun also mit diesen Bedürfnissen um? Bekämpft man sie und wird dadurch, harsch und ungeduldig gegenüber sich und anderen? Oder schafft man es, sie zu befriedigen? Und wie? Über letzteres sollten wir mehr nachdenken und sprechen!

 „Schafft man es, sie zu befriedigen? Und wie? Über letzteres sollten wir mehr nachdenken und sprechen!“

Wie kann man denn persönliche Risikobewertung mit Herdendruck oder Gruppendynamik in einen Ausgleich bringen? Welchen Tipp kannst du geben?

Zunächst einmal halte ich es für ratsam, die Empfehlungen öffentlicher Stellen wie RKI oder DAH ernst zu nehmen. Ich bin entschieden dafür, sich konzentriert mit ihnen zu beschäftigen und für sich Entscheidungen zu treffen, was das für das eigene Verhalten bedeutet. Wer Krankheitssymptome hat oder direkten Kontakt zu Risikogruppen oder Risikogebieten hatte, sollte sich ernsthaft überlegen, auf bestimmte oder alle direkten sexuellen Kontakte zu verzichten, wenngleich ich aber niemanden verurteilen würde, der sie trotzdem sucht.

Es sind und bleiben – insbesondere in Bezug auf das Sexuelle - Handlungsempfehlungen über die die Einzelnen entscheiden müssen. Man darf auch einfach nicht vergessen, dass sexuelle Bedürfnisse zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehören. Und nicht zuletzt ist ihre Befriedigung auch gesund. Ich halte es momentan für vernünftig, die Anzahl der Sexpartner zu reduzieren Das heißt aber nicht, Sexualkontakte zwingend gänzlich aufgeben zu müssen. Und schon gar nicht heißt das, sie zu verurteilen. Wer sexuelle Wünsche und Phantasien verbietet, handelt tyrannisch und hochgradig unsozial.

Möchtest du noch etwas loswerden?

Ich denke, es gibt in einer Hinsicht gar nicht so viel Grund zu Pessimismus. Die Schwulen haben sich während Aids auch nicht jegliche sexuelle Lust untersagt. Sie werden das auch nicht durch und nach Corona tun. Zugleich müssen wir uns in dieser Krise, die ich als sexuelle Zäsur begreife, erneut mit mächtigen Kontrollimpulsen gegenüber Sexualität auseinandersetzen. Das als Anstoß zur Reflexion über Sexualität und sexuelle Verhältnisse zu begreifen, halte ich für eine Chance.

*Interview: Christian Knuth


Über Marco Kammholz

Als  staatlich anerkannter Jugend- und Heimerzieher hat Marco Kammholz eine Weiterbildung am Institut für Sexualpädagogik (ISP) durchlaufen und mit dem Qualitätssiegel der Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp) zertifiziert. 

www.marco-kammholz.de

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