Oper Frankfurt: Die ersten Menschen

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Foto: Matthias Baus

Kongenial setzt Tobias Kratzer das beklemmende Familiendrama des fast vergessenen Komponisten Rudi Stephan in Szene, für musikalisch höchstes Niveau bürgen Generalmusikdirektor Sebastian Weigle und ein hochkarätiges Sänger*innenensemble.

Wenn sich der Vorhang hebt, wähnt man sich zuerst in den Kulissen einer 1990er-Jahre-Sitcom: funktional sind Küche und Wohnzimmer auf kleinem Raum eingerichtet, während durch die biederen Ziergardinen ein heiteres Landschaftspanorama lacht. Hausfrau Chawa (Eva) schafft am Herd, Hausherr Adahm (Adam) hält emsig werkelnd das Haus in Schuss, während die Söhne außer Haus ihrem Tagwerk nachzugehen scheinen. Man parliert auf Alltagsniveau, es fehlt nur die Lachkonserve, wenn Adahm seiner Frau als selbstgebasteltes Kleid eine zweckdienliche Kittelschürze überreicht. Die Fassade bröckelt, wenn sich die Szene öffnet und klar wird: statt in einem Vorstadtidyll befinden wir uns mitten in der Apokalypse, und der Familien-Bunker liegt sicher unter der atomar verseuchten Erdoberfläche. Die Urfamilie gehört der Prepper-Szene an, jenen besorgten Zeitgenoss*innen, die sich mit Dosenfutter bevorraten und ihr Überleben durch allerlei Absicherungen wie Geigenzähler, Aggregatoren und Ganzkörperschutzanzügen zu sichern versuchen.

Foto: Matthias Baus

Die ersten Menschen sind in der Lesart des Regisseurs Tobias Kratzers also in Wahrheit die letzten Menschen. Der zartbesaiteten Zuschauer*innen im Halse stecken bleibende Konflikt indes bleibt der gleiche: Wohin mit der ganzheitlichen Sehnsucht nach der körperlichen und seelischen Verbindung mit einem Mitmenschen, wenn es keine außerhalb der Familie gibt? Die erotisch erfüllende Zweisamkeit zwischen Adahm und Chawa ist längst verflogen, besonders Chawa leidet unter emotionaler Entbehrung, ebenso wie ihre Söhne Kajin (Kain) und Chabel (Abel), welche ihrerseits ihre heteronormative Lust auf die einzig verfügbare Frau richten müssen, eben ihre Mutter. Während Chabel Heil im selbst geordneten Glaube sucht und mit seiner Idee eines rituellen Tieropfers auch den Eltern Zuversicht zu spenden vermag, verschließt sich Kajn zweifelnd dem Glaube an göttliche Hilfe und Gnade – er verharrt im Grübelzwang, hadert mit seiner Lust und der Ungerechtigkeit seiner mühsamen Existenz, scheitert bei seiner Suche nach einem liebensfähigen Wesen und muss sich pragmatisch an Pornoheftchen abreagieren.

Was sich untertags im ersten Akt unheilvoll ankündigt, erfüllt sich in krasser Direktheim im zweiten, der an der von Ödnis und Verheerung gezeichneten Erdoberfläche spielt: Chabels fast schon heilige Verehrung der schönen Chawa widerhallt in der nach körperlicher Bestätigung suchenden Frau, die gegenseitige Verzückung endet als Quickie im ausgebrannten Familienauto, den der heimgekehrte Kajin zum allgemeinen Unglück in flagranti miterleben muss. Die Inzest-Tragödie endet im biblischen Brudermord Kaijns an Chabel, schließt ihm jedoch eine erlösende Hoffnungsvision der Zukunft an: "kommendes Blut kommender Menschheit" wird sich erheben und die Welt bevölkern, und tatsächlich kriechen in Kratzers Interpretation im Schlussbild die überlebenden Menschen wieder aus ihren Kellern hervor. Der Grundton der Oper ist zutiefst humanistisch, "jede Tat hat ihr Recht", fasst Adahm dies mit dem lakonischen Ausspruch zusammen und meint damit, dass jeder Mensch Verletzungen erfahren und unerfüllte Bedürfnisse in sich trägt, die er auf förderliche oder verheerende Weise lösen muss. Jedes Handeln hat einen Grund und lässt sich verstehen: dies ist die Grundvoraussetzung für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft – ob weltumspannend oder, wie hier, auf die Familie als kleinste Einheit bezogen.

Foto: Matthias Baus

Das im Untertitel "Erotisches Mysterium" genannte Drama stammt aus der Feder des exzentrischen Dichters und Dramaturgen Otto Borngräber. Dem Text wurde und wird Blumigkeit und eine wagnerisch-exaltierte Künstlichkeit vorgeworfen. Tatsächlich jedoch legt der Autor nicht nur eine höchst bühnenwirksame Dichtung vor, sondern bringt die zeitlosen Konflikte der "ersten Menschen" in unvermuteter Direktheit, präzisen Metaphern und sprachmelodisch wirksam auf den Punkt. Rudi Stephan wird diese Qualitäten erkannt haben; seine Umsetzung zeichnet ihn als Komponisten aus, der als Autodidakt weder seine musikalischen Wurzeln verrät (gerade Wagners Ring war in seiner Architektur und Wirkung Vorbild), noch sich – wie etwa Hans Pfitzner – den Strömungen des 20. Jahrhunderts verschließt. Stephan hat ein genuines Werk erschaffen, das den späteren Meister erahnen lässt und damit sein frühes Verstummen umso bedauerlicher macht.

Foto: Matthias Baus

Foto: Matthias Baus

Foto: Matthias Baus

Die Frankfurter Neuproduktion, 103 Jahre nach der Uraufführung an gleicher Stelle, ist die letzte des scheidenden Generalmusikdirektors Sebastian Weigle, der nach 15 höchst erfolgreichen Jahren sein Amt an Thomas Guggeis weitergibt. Einmal mehr zeigt Weigle, dass er ein hervorragender Operndirigent ist: statt das Orchester sinfonisch den Sänger*innen vorzuschreiben, wo sie einzusetzen haben, formt er die musikalische Dramaturgie konsequent aus dem Gesang, was mitunter kammermusikalisch anmutet. Stephans groß angelegte, expressiven Ausbrüche im Orchestergraben gleichen in Frankfurt den Eruptionen eines nicht zur Ruhe kommenden Vulkans. Für die Sänger*innen ist ein Abend zu bestehen, der vom Anspruch her einer "Walküre" in nichts nachsteht: ohne Chor, höchst dramatisch und durchweg in undankbar hohen Gesangslinien. Als einziger Gast ist der amerikanische Tenor Ian Koziara zu erleben, der als Chabel nur im ersten Akt hörbar mit der Höhe zu kämpfen hat. Andreas Bauer Kanabas überzeugt als geerdeter Adahm mit zupackendem Spiel und wohltönend-makellosem Gesang. Ambur Braid als Chawa präsentiert ein fulminantes Rollenportrait, wenngleich sie vor allem im ersten Akt nicht gänzlich mühelos eine freie Tongestaltung zu gestalten vermag – großartig indes ihre große Szene zu Beginn des zweiten Aktes, die hier die Seelenpein einer vernachlässigten Frau beklemmend nah transportiert. Ebenfalls überragend in seiner Darstellung ist Ian McNeal als Kaijn, der auch gesanglich die beinah sich in die Neurose steigernde Dramatik seiner Rolle tadellos bewältigt – seine körperliche Präsenz ist archaisch, verletzbar und bedrohlich zugleich.

Der Oper Frankfurt ist unter Intendant Bernd Loebes eine szenisch und musikalisch hoch gehaltvolle Produktion zum Spielzeitausklang geglückt, die trotz ihres bedrückendes Themas und der realistisch-düsteren Bildwelt (der Besuch ist folgerichtig ab 16 Jahren empfohlen) einen hohen, kurzweiligen Unterhaltungswert besitzt. Und garantiert zur anschließenden Diskussion über die gestellten Grundfragen der Menschheit einlädt.

9.7., Oper, Willy Brandt Platz, Frankfurt, 18 Uhr Uhr, weitere Vorstellungen: 12., 15., 17., 20.7., 19:30 Uhr, www.oper-frankfurt.de


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