ZWISCHEN DEN ZEILEN

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Egal ob Diesel, abgasfrei oder demnächst selbstfahrend: Wer nicht mit dem An- und Abtransport von Nachwuchs zu und von Bildungseinrichtungen betraut ist, wöchentlich Möbel kauft oder einen Vierbeiner zweimal am Tag zur Defäkation ins Feld fahren muss, braucht als Einwohner*in einer Metropole immer seltener ein Auto.

Weil der öffentliche Nahverkehr zwar gut ausgebaut aber fern von Schnäppchenpreisen fährt, schwingt sich der Stadtmensch immer häufiger auf das Zweirad und damit in Gefahr.

Nicht nur, dass Radstreifen entlang der Hauptstraßen in regelmäßigen Abständen von warnblinkenden Paketlieferwagen versperrt sind oder radelnde Artgenossen in lebensentsagender Fahrweise entgegenkommen.

Auch junge Ehefrauen, die ihre Fahrpraxis bislang weitgehend mit einem Fiat 500 erworben haben, aber urplötzlich von ihrem Gatten wohlmeinend mit einer zwei Tonnen schweren Geländelimousine ins Rennen geschickt wurden, sind sich nunmehr der Maße und Masse ihres Fahrzeuges bewusst und fordern von ihrem Führerinnenstand in zwei Metern Höhe kurzentschlossen das Recht der Stärkeren ein.

Eulenhafte Rundumsicht ist darüber hinaus nötig um den Taxifahrern zu entgehen, die mit beinahe dreistelliger Tacho-Anzeige whatsappend im Blindflug über drei Fahrspuren herüberscheren.

Foto: Flickr User Brandon Martin-Anderson/CC BY-SA 2.0

Wer dem Verkehrsdarwinismus entrinnen will hat meist die Möglichkeit mit dem Fahrrad auf grüne Nebenstrecken auszuweichen. Doch auch dies nicht bleibt nicht ohne Risiko.  

Denn unversehens stellt sich dort Alopochen aegyptiaca unerschrocken in den Weg, so dass der radfahrende Mensch dem unter dem Kampfnahmen „Nilgans“ berüchtigten Wasservogel nur durch das intuitive Ausweichen in hohes Gras oder ein Gebüsch entgehen kann.

Sensationelle Abwürfe aus dem Sattel wurden auch nach dem Überfahren einer am Boden liegenden Kastanie beobachtet, beachtliche Rutschpartien sind durch mehrlagig und feucht ausgelegtes Laub in Kurvenlagen zu erreichen.

OMG

Ohnehin setzt das Novemberwetter in seiner Wankelmütigkeit eine bestimmte Wetterfestigkeit voraus, die manch aufwändige Frisur schlichtweg nicht leisten kann.

Gottlob ist der ÖPNV in den Regiopolen des GAB-Landes doch gut genug ausgebaut, um auch unzerzaust und weitgehend trocken ans Ziel zu kommen.

Besonders zu Schulbeginn oder -ende stellt eine Fahrt mit S-, U- oder Straßenbahn zudem eine religiöse  Erfahrung dar. Denn nirgends sonst in der Stadt ist die Anrufung des Allerhöchsten so häufig zu hören, wie aus den frommen Mündern früher Teenager. Mit einer Inbrunst, die jedem Kleriker die Tränen der Bewunderung in die Augen triebe, leiten sie durchweg jeden gesprochenen Satz ein mit der Beschwörungsformel „Oh, mein Gott“.

Nicht selten geht ihre spirituelle Entrückung so weit, dass auf den Ausruf „Oh, mein Gott“ nicht mehr notwendigerweise weitere Satzteile folgen. Die Antwort des Gegenübers lautet deshalb naturgemäß ebenfalls „Oh, mein Gott“.

Schnell wird aber klar, dass auch diese scheinbar frömmlerischen Schüler*innen nur Opfer weiterer anglophoner Floskeln geworden sind, deren andere bereits durch ihre deutschen Übertragungen als „das macht Sinn“ und „nicht wirklich!“ das deutsche Sprachgewebe vernarbt haben.

In Rückbesinnung auf den eigenen pubertären Sprachgebrauch muss ich mich gerechterweise daran erinnern, dass ich selbst unlängst das Wort „Alter“ nicht nur jedem Satz vorangestellt, sondern auch unabhängig von tatsächlichen Lebensjahren und Geschlecht als Anrede benutzt habe.

Heute entfährt mir dieser Ausruf meist nur noch, wenn eingangs beschriebene Ausnahmesituation im Stadtverkehr zum Beinahe-Crashs führen.

Nicht zuletzt der gute Ton aber auch die Vermeidung von Handgreiflichkeiten und juristischen Konsequenzen gebietet es, trotz rücksichtslosem Verhalten auf Unflätigkeiten dem verkehrlichen Konkurrenten gegenüber zu verzichten.

Ohnehin begrenzt der Adrenalinpegel angesichts eines urplötzlich aus einer Einfahrt auftauchenden Geländewagens den eigenen Wortschatz erheblich, so dass ein geschrienes „Alter!“ hier schon als tiefsinnig gelten muss.

Übrigens wäre hinsichtlich der Möglichkeit wenige Augenblicke später an der Himmelspforte läuten zu müssen in dieser Situation ausnahmsweise auch ein „Oh, mein Gott!“ legitim.

Stillgestanden!

Geschwindigkeit verstärkt zwar die Auswirkungen, ist für einen Zusammenstoß aber nicht Voraussetzung.

Übrigens verdient eine ganze Berufsgruppe ihr täglich Brot mit dem Verharren.

Waren sie früher nur in den Wahrzeichen europäischer Kulturmetropolen postiert, findet man sie in jüngerer Zeit fast überall dort, wo Kopfsteinlaster vor einem alt aussehenden Haus liegt.

Als ich neulich über den Frankfurter Römerberg lief, merkte ich zunächst nicht, dass ich als einziger Mensch keine „Lebende Statue“ war.

Trotz ihres Stillstehens geraten auch diese an sich harmlosen Kleinkünstler zunehmend in Gefahr.

Grund dafür ist die grassierende Verbreitung von sogenannten Selfie-Sticks.

Diese ausziehbaren Handyhalterungen zur Anfertigung digitaler Selbstporträts schienen bei einzelnem Auftreten bislang unproblematisch.

Foto: flickr Nutzer Oh-Barcelona/CC BY 2.0

Doch eine mit Selfie-Sticks gerüstete 50-köpfige Entourage fernöstlicher Pauschaltouristen im Schnappschussmodus ist erst auf den zweiten Blick von einem Fecht-Tunier zu unterscheiden.

Mehrfach war zu beobachten, dass zu den Leidtragenden oft auch lebende Statuen zählen, die naturgemäß im Revierbereich der Städtereisenden ihrem Tagwerk nachgehen und die beim ersten unachtsam geschwungenen Selfie-Stick ihre bronzene Miene noch nicht verziehen.

Doch wenn auch die zwitschernden Warnlaute der barocken Gold- und Silbermänner inmitten eines Pulks von Teleskopstangen untergehen, dann steigen sie von ihrem Podest, setzen sich auf die Treppenstufen der Tourist-Informationen um entnervt eine Zigarette zu rauchen.

Und dann hört man im Vorbeigehenden oft einen Seufzer, der in ihrer Sprache etwas bedeuten könnte wie: „Oh, mein Gott.“

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