ZWISCHEN DEN ZEILEN im Januar 2021

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Genau genommen fängt man ja nur wieder von vorne an, die Monate zu zählen, während die gemeinsame Karussellfahrt um die Sonne Runde um Runde dreht. 2020, das Jahr, dem nicht viele Gegenargumente einfallen, wenn man es komplett verkorkst nennt, liegt hinter uns.

Kaum ein Mensch lebt noch, der sich erinnern kann, wann ein Jahr uns zuletzt vor so viele neue Situationen und Herausforderungen gestellt, so viel Umdenken erzwungen, so viele neue Erfahrungen hervorgebracht hat und vieles klarer erscheinen ließ. Beispielsweise, dass eine gemütliche Jogginghose bezüglich Dauertragbarkeit den allermeisten Kleidungsstücken den Rang abläuft. In den Lockdown-Monaten hat sich aber auch das Dickicht des Alltags gelichtet. Die Ranken von sozialem Umgang, Konsum, Genuss und unerschöpflichen Freizeitangeboten wurden grob beiseitegezerrt, der Blick aufs Wesentliche frei und Raum geöffnet für die Beschäftigung mit sich selbst. Unter den Bedingungen der Corona-Pandemie kristallisierten sich nicht nur in Politik, Wirtschaft, Gesundheitssystem und Gesellschaft die jeweiligen Stärken und Schwächen heraus. Auch an uns selbst und den Menschen, die uns nahestehen, haben wir sie deutlicher wahrnehmen können. Das war nicht immer angenehm. Aber hilfreich, um die Krise tatsächlich in eine Chance für 2021 zu wenden und dafür zu nutzen, die eigenen Stärken zu stärken und an erkannten Schwächen zu arbeiten.

Im Jahr 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, als Millionen von Menschen nichts lieber getan hätten, als eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen und monatelang vor dem Fernseher zu sitzen, um ihr eigenes Leben und das ihrer Angehörigen zu schützen, erschien in der Fachzeitschrift Psychological Review der Aufsatz „Eine Theorie der menschlichen Motivation“. Der amerikanische Autor Abraham Maslow, ältestes von sieben Kindern einer jüdisch-ukrainischen Einwanderfamilie, wurde damit nicht nur zum Gründervater einer humanistischen Psychologie, in der seelische Gesundheit und menschliche Selbstverwirklichung im Vordergrund stehen, sondern auch zum Erbauer der berühmten Bedürfnispyramide. In diesem Gedankengebäude steigt der Mensch immer dann um ein Stockwerk höher, wenn er die Bedürfnisse und Anforderungen der unteren Etage befriedigt hat. Anhand dieser Konstruktion wird schnell deutlich, warum die Corona-Pandemie uns wie ein Labyrinth vorkommt.

2. OG wegen Baustelle gesperrt

Die im Erdgeschoss liegenden Grundbedürfnisse wie Luft, Wasser, Nahrung und Unterkunft sind für die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen in unserem Land geregelt. Mangel an ihnen kennen bei uns nur die wenigsten. Wie reflexhaft Menschen schon auf eine vermeintliche Verknappung reagieren, haben uns leer geräumte Nudelregale und erbärmliche Raufereien um Toilettenpapier veranschaulicht.

Bild: Jessica Purkhardt

Wenn jedoch diese elementaren Basics gesichert sind, erklimmen wir die nächste Ebene der Pyramide und beginnen, uns um unsere Sicherheit zu sorgen. Dazu zählen nicht nur die Furcht vor Raub und Gewalt, sondern auch das Bangen um die Familie, die Arbeit und die Gesundheit. Schon in diesem 1. OG der Bedürfnispyramide packt uns COVID-19 also dort, wo es richtig wehtut, macht Kurzarbeit und Jobverlust zum Massenphänomen, bedroht ältere Angehörige – und jeder, der die Maske unter der Nase trägt, wird als Gefährder der eigenen körperlichen Unversehrtheit erkannt. Ein Ausnahmezustand, mit dem das vergangene Jahr begann und endete. Nur in den wenigen Wochen dazwischen bewohnten wir das 2. OG. unseres Seelen-Turms, wo wir uns mit unseren sozialen Bedürfnissen befassen konnten. Sich zugehörig fühlen, Freunde haben, kommunizieren, gegenseitige Unterstützung erleben: Zuneigung bis hin zu Liebe und Intimität sind Notwendigkeiten, ohne die wir weder langfristig gesund bleiben noch uns motivieren und unser angeborenes Wachstumspotenzial ausleben können. Ohne Gemeinschaft und Austausch mit anderen fehlt uns der rechte Antrieb, um uns auf den nächsten Etagen mit unseren Individualbedürfnissen zu befassen, nach Wertschätzung, Selbstbestätigung, Erfolg und schließlich Selbstverwirklichung zu streben. In einer Wohlstandsgesellschaft zu Friedenszeiten wie der unseren sind wir vor allem mit dem Ausbau der eigenen Unabhängigkeit, Freiheit und persönlichen Entfaltung beschäftigt. Brechen die unteren Stockwerke unserer Bedürfnispyramide unvermittelt stückweise ein wie während der Corona-Pandemie, haben wir auf allen Etagen zugleich Baustellen, die unsere Aufmerksamkeit erfordern und in uns Unzufriedenheit erzeugen. Nicht wenige wirft dies offenbar so weit aus der gewohnten Bahn, dass sie beginnen, blindwütig um sich zu schlagen, das Reichstagsgebäude stürmen wollen und durch das Verleugnen realer Infektionsrisiken sich und andere Menschen in Gefahr bringen. Auch dies erörterte schon der Bedürfnispyramiden-Erbauer Maslow. Destruktivität sei nicht wie bei Freud dem Menschen ureigen, sondern eine wesentliche Reaktion auf die Frustration seiner Bedürfnisse, schrieb er.

Zeit für die Kernsanierung

Elementare Versorgung, Sorge um die eigene Gesundheit, soziale Entbehrungen, Einschränkung von Freiheit und Unabhängigkeit. Das zurückliegende und auch das gerade erst begonnene Jahr haben in den Gebäuden unserer individuellen Bedürfnisse in jedem Stockwerk manchen Raum demoliert. Schon während des ersten Lockdowns im Frühjahr haben viele von uns die im Überfluss verfügbare Zeit für eine handwerkliche Renovierung des eigenen Heims genutzt, den Kleiderschrank ausgemistet und endlich mal Papiere und Unterlagen ordentlich sortiert. Nun, während des zweiten Lockdowns und der darüber hinaus anhaltenden Einschränkungen, sind wir selbst dran für eine verdiente Aufarbeitung und Aktualisierung.

Foto: flickr Nutzer a rancid amoeba/CC BY SA 2.0

Denn da die Pandemie ohnehin sicher Geglaubtes auf vielen Ebenen infrage stellt, müssen wir allein deshalb wieder in alle Winkel und Ecken unser selbst schauen und manches neu strukturieren. Kaum werden wir wieder so viel Anlass dazu aufgenötigt bekommen wie jetzt. Die Gelegenheit ist also günstig, sich auf einige Fragen Antworten zu geben: Erfüllen wir widerspruchsfrei unsere Grundbedürfnisse und versorgen wir unseren Körper wirklich mit allem, was er braucht? Nicht von manchem zu viel, während wir ihm anderes vorenthalten? Tun wir genug zur Sicherung und Stärkung unserer Gesundheit? Lassen wir im Austausch mit anderen Menschen, in Familien, Beziehungen, Freundschaften und den Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, mindestens genauso viel Aufmerksamkeit und Wertschätzung fließen, wie wir motivierende Kraft aus ihnen schöpfen? Sind Likes und Favs sinnerfüllte Maßeinheiten für Wertschätzung und Selbstbestätigung? Vergeht die eigene Freiheit und Unabhängigkeit wirklich mit dem Verzicht auf zwei Wochen Urlaubsinsel und dem Gebot, ein Stück Stoff von Ohr zu Ohr vor Mund und Nase zu spannen? Mitunter können die Ergebnisse hierauf eine Überarbeitung des eigenen Raumprogramms, Wanddurchbrüche oder den Einzug von Brandmauern notwendig machen. Ist dann aber schließlich ausgekehrt und frisch gewischt, können wir so aufgeräumt und hoffnungsvoll wie lange nicht mehr in dieses neue Jahr starten.

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