Kolumne: Macht euch geschmeidig!

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Queer zu sein geht an die Substanz. Ein Viertel aller LGBTIQ* leiden im Laufe ihres Lebens an Depressionen, 15 Prozent unter Schlafstörungen. Von Herzkrankheiten und Migräne sind queere Menschen doppelt so häufig betroffen wie die Mehrheitsgesellschaft. Die Wissenschaft führt dieses höhere Erkrankungsrisiko auf Minderheitenstress zurück. Der Druck des Andersseins. Er beginnt oft schon in frühen Entwicklungsphasen und wirkt meist über die gesamte Lebensspanne. Wie sehr, hängt vom heteronormativen Erwartungsdruck ab. Je mehr man wegen der eigenen Homosexualität oder Transidentität von der heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Mehrheitsgesellschaft beansprucht wird – oder sich selber beansprucht –, umso intensiver der Minderheitenstress.

Queeres Leben „under pressure“

Verstärkt wird er durch ein Leben in Verstecken und Subkulturen oder die Vermeidung von Coming-out-Entscheidungen. Dann hat diese Belastung das Potenzial, andere stressbezogene Krankheiten auszulösen. Je größer also die Reibungsflächen zwischen queerer Minderheit und straighter Gesellschaft, und je mehr Abrieb an den Kontaktflächen entsteht, umso größer ist der seelische Verschleiß bei LGBTIQ*.

Karolina Grabowska/Pixabay

Unter diesem Blickwinkel erscheinen nicht alle Antidiskriminierungsmaßnahmen aus Vergangenheit und Gegenwart besonders zielgerichtet. Community und Staat verwenden gleichermaßen viel Ressourcen auf Symbolpolitik und Gießkannenfinanzierung. Wirkungsvoller ist es, zu schauen, wo die größte Reibungshitze entsteht und sich bestimmte queere Menschen an der Gesellschaft wund scheuern. Wie es oft in Deutschland der Fall ist, liegt das Defizit meist nicht in der Finanzierung, sondern in den Strukturen.

Zurechtfeilen einer modernen Gesellschaft

Queeres Leben bedeutet für viele Menschen aber eben auch, sich durchaus bewusst an überkommenen Normen, Wertvorstellungen und Rollenbildern der Mehrheitsgesellschaft zu reiben. Wir dürfen nicht vergessen, dass die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Homo- und Bisexuellen nicht Ergebnis einer Transformation der Mehrheitsgesellschaft aus sich heraus ist, sondern die Höhlung, die der stete Tropfen queeren Widerstandes in über einem halben Jahrhundert in sie hineingespült haben.

Stefan Schweihofer/Pixabay

Das gegenwärtige Aufspreizen des Spektrums von sexueller und geschlechtlicher Identität mit der Beschreibung neuer Minderheitenmerkmale wird wahrscheinlich zur Folge haben, dass deren wunde Punkte von den Präventionsmaßnahmen erst einmal nicht berücksichtigt werden. Mitunter wärmt sich der Queeraktivismus auch gerne mal an der selbst verursachten Reibungshitze und erzeugt Verschleiß im gesellschaftlichen Miteinander, der vermeidbar ist. Gut funktioniert es aber nur gemeinsam, wenn alle Beteiligten die Kontaktflächen zueinander geschmeidig halten. Das Prinzip dürfte bekannt sein.

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