Kolumne: Queere Amnesie

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Vor nicht allzu langer Zeit konnte ich mir nicht mehr vorstellen, dass wir irgendwann wieder an den Tresen unserer queeren Bars sitzen würden, ohne dass sich das Gespräch bald zwangsläufig um die tagesaktuelle Inzidenz drehen würde. Heute ist das glücklicherweise kein Thema mehr und meine Erinnerung an die Corona-Pandemie wird zunehmend lückenhaft. Das gilt leider auch für die damaligen Solidaritätsaktionen zur Unterstützung der queeren Bars. Dabei waren die erinnerungswürdig. Wie so viele andere Begebenheiten, Menschen und Orte, die in den vergangenen Jahrzehnten unsere Communitys umgetrieben und geprägt haben.

Das Internet vergisst nichts

Geschichte ist nicht das, was in der Vergangenheit war, sondern die Deutung dessen, was uns aus ihr überliefert wurde. Das ist bisweilen ein himmelweiter Unterschied. Denn welche Fakten Gesellschaften weitertragen, ist höchst unterschiedlich und hängt oft davon ab, welche Bedeutung ihnen beigemessen wird. Im Bezug auf Lesben, Schwule und Transgender war die Wertschätzung im zurückliegenden Jahrhundert gering.

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Gleichzeitig konnte die Dokumentation der eigenen Homosexualität das Leben, mindestens aber die Existenz kosten. Wir wissen deshalb vergleichsweise wenig über queere Vergangenheit, obwohl es in der Nachkriegszeit mindestens vier Dutzend schwule Bars in Frankfurt gab, in denen oft nicht nur Personen, sondern Persönlichkeiten verkehrten. Von Orten und Menschen gibt es heute fast nur noch mündliche Überlieferungen. Das meiste ist vergessen.

Gegenwart wird Vergangenheit

Heute wird dagegen alles Mögliche im Internet, vor allem in den sozialen Medien, für die Nachwelt festgehalten. Alles – und das ist das Problem. Was bleibt, ist ein digitaler, zusammenhangloser Müllhaufen.

In Kellern und auf Dachböden gibt es jedoch auch aus der vordigitalen Zeit noch Zeitzeugnisse, denn mit dem Aufbruch der schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung und dem späteren Aids-Aktivismus wurde fleißig publiziert und vieles aufgehoben. Mehr aber auch nicht.

mit KI erstellt

Damit aus diesen Erinnerungen Geschichte werden kann, durchforstet beispielsweise die AIDS-Hilfe Frankfurt nun in einem gemeinsamen Projekt mit dem Frankfurter Institut für Stadtgeschichte ihr Archiv, um Dokumente aus vierzig Jahren für die Nachwelt zu erhalten. Es könnte ein Anreiz für weitere Zeitzeug*innen sein, Erinnerungsstücke auf Denkwürdiges zu prüfen, dem Zahn der Zeit zu entziehen und sichtbar zu machen. Denn auch und vielleicht gerade mithilfe queerer Geschichte kann eine Gesellschaft Rückschlüsse ziehen auf den Charakter des zeitlichen Wandels und dessen Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft.

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