Kolumne: Lange lebe die Revolution

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Revolution ist ein großes Wort für ein paar sehr kleine Zeichen. Denn meist ist die Revolution durch einen nachhaltigen, grundlegenden strukturellen Wandel in relativ kurzer Zeit gekennzeichnet. Ob die Einführung von Sternchen, Unterstrich oder Doppelpunkt in die öffentliche Schreibweise dem gerecht werden wird oder bloße Symbolhandlung bleibt, wird sich zeigen. Die Lager in der öffentlichen Debatte um mehr Geschlechtervielfalt und -gerechtigkeit in der Sprache ähneln aber denen einer veritablen Revolte. Hier die gemäßigten Revolutionär*innen, die Veränderung fordern, weil es an der Zeit ist. Dort jene, die das bestehende Prinzip für gottgegeben und unumstößlich halten, vor allem aber davon profitieren. Darüber hinaus gibt es die Radikal-Revoluzzer*innen, die jeden als Feind*in betrachten, der oder die nicht die rigorosesten Ideen teilt. Ihnen gegenüber stehen die Konterrevolutionär*innen, die alle hassen, die etwas ändern wollen. Anders als bei ordentlichen historischen Umstürzen finden die Auseinandersetzungen leider nicht mittels mutig an Türen genagelter Streitschriften oder rhetorisch fulminanter Reden statt. Vielmehr beharken sich die Debattenteilnehmer*innen vor allem auf Twitter und Facebook, wobei offenkundig wird, dass viele von ihnen schon mit den bestehenden Buchstaben und Zeichen der deutschen Sprache heillos überfordert sind.

Evolution statt Revolution

Wie bei allen Revolutionen gehören die meisten Menschen jedoch zu keiner der genannten Gruppen. Sie stehen als

Foto: flickr Nutzer stef.leuven/Öffentliche Domäne

Zuschauer*innen an der Seitenlinie und begegnen sprachlichen Neuschöpfungen mit der gleichen Apathie, die sie den fünfstelligen Postleitzahlen entgegenbrachten. Gleichwohl versuchen sie, den erbittert vorgetragenen Diskussionssträngen zu folgen, und sind dabei aufrecht bemüht, möglichst viel richtig zu machen, ohne je ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge zu entwickeln. Der Geflügelzuchtverein lädt „Liebe Mitglieder*innen“ zur Jahreshauptversammlung ein und aufgeweckte Grundschüler*innen sinnen einen ganzen Sommerurlaub darüber nach, wie die korrekt gegenderte Anrede ihrer Tante auf der Ansichtskarte lauten muss. Schlussendlich wird es wie bei der neuen deutschen Rechtschreibung eine Generationenfrage sein: Die Nachgeborenen kennen es nicht anders, die meisten anderen stolpern zeitlebens darin herum oder ignorieren sie der Einfachheit halber gleich ganz.

400 Worte für Schnee

Der Streit um die Abbildung geschlechtlicher Vielfalt in der Sprache basiert auf der Überheblichkeit zu glauben, man könne die Tatsache, ob es mehrere Geschlechtsidentitäten gibt oder nicht, verordnen. Entscheidend ist jedoch die Wahrnehmung der eigenen Umgebung. Ein Blick auf einen belebten Platz an einem beliebigen Ort auf der Welt genügt, um zu erkennen, dass Geschlechtsäußerungen außerhalb der Unterwäsche im Wesentlichen durch soziale und kulturelle Konventionen bestimmt werden. Wie sehr Menschen aufgrund ihrer Beobachtungen bereit sind, Vielfalt anzuerkennen, hängt vor allem davon ab, wie viel Erfahrung sie damit haben. In unserer Sprache gebrauchen wir im Alltag etwa eine Handvoll Worte für Schnee. Dagegen haben viele Kulturen, in deren Heimat es keinen gibt, auch kein Wort dafür. Anders als irrtümlich verbreitet haben die Inuit hingegen in etwa genauso viele Worte für Schnee wie wir. Allerdings differenzieren sie die unterschiedlichen Erscheinungsformen sprachlich meist viel weiter. Mutmaßlich tun sie das, weil sie um die vielfältigen Schneearten wissen und ihrer Verschiedenheit jeweils einen Wert beimessen, der Erwähnung finden soll. Mit den Kombinationsmöglichkeiten der eskimo-aleutischen Sprachfamilie gelingt das zugegeben weniger holperig als im Deutschen. Aber wir könnten es auch. Wenn wir wollten.

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