Zwischen den Zeilen

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Anlässlich einer Badereise, die ich neulich größtenteils in badewannewarmem Meer kurz unterhalb der Wasserlinie verbrachte, drängte sich mir, während ich ein Korallenriff entlang schnorchelte, unversehens die Auseinandersetzung mit einem Begriff aus der LGBTIQ*-Bewegung auf, von dem ich geglaubt hatte, ihn schon oft genug bedacht zu haben.

Angesichts tausender Fische, deren Formen so unterschiedlich waren, dass die des einen manchmal schien, als wollte sie das genaue Gegenteil eines anderen sein.

Mit Befestigungsorten von Augen und Flossen, die man sich nicht auszudenken gewagt hätte.

Und den Farben des Regenbogens (plus noch einige extra), die sich mitunter alle gleichzeitig auf einem einzigen Fisch versammelt hatten, der, vielleicht weil er sich noch nie selbst gesehen hatte, damit so bescheiden an der Riffkante entlang schwamm, als sei er einfach nur grau.

Von solcher Vielfalt umschwommen wurde also unvermittelt ebendieser Begriff in mir laut: Vielfalt.

Foto: flickr Nutzer Matt Kieffer/CC BY-SA 2.0

Es gibt ja Worte, die einem plötzlich fremd und inhaltsleer vorkommen, wenn man sie sich ganz oft hintereinander vorsagt.

So geht es mir manchmal vor, wenn sich der Marketing-Jargon der Worte „Vielfalt“, „bunt“ und „Regenbogen“ bemächtigt, sie als Beliebigkeitsfloskeln durch die Gegend wirft und damit eigentlich meistens einfach nur „schwul“ meint.

„Wer im Glashaus sitzt,…

soll nicht mit Steinen werfen“ lautet die modernisierte Sprichwort-Variante des neutestamentarischen Jesus-Wortes „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie“. Vermutlich brauchte es eine Neufassung, weil die Meinungen darüber, was nun Sünde ist, heutzutage weit auseinanderliegen.

Theoretisch sitze ich nämlich auch im Glashaus, weil im letzten Herbst auch unter meinem in weiten Teilen Frankfurts plakatierten Konterfei der Wahlspruch „Verliebt in Vielfalt“ zu lesen war und weil ich außerdem gerade neulich erst wieder den Verkehrskreisel im Herzen des in der Frankfurter Innenstadt gelegenen queeren Bermudadreiecks in bunten Regenbogenfarben bemalt habe.

Ist das nicht schizophren? Vielleicht.

Über diesen Anwurf kann man nicht mehr erhaben sein, wenn man sowas schreibt und tut.

Jessica Purkhardt

Aber seit es die LGBTIQ*-Bewegung gibt, muss sie sich mit ähnlichen Widersprüchen auseinandersetzen:

„Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis am größten“

Es ist wohl also nicht sinnvoll denen, die ernsthaft für gleichberechtigte Vielfalt streiten, genau diesen Begriff aus ihrem ohnehin schon begrenzten Portfolio an allgemeinverständlichen Vokabeln zu nehmen und uns die einzige Flagge, unter der wir mit gutem Gewissen alle segeln können, zu versagen, nur weil die Schokoladenindustrie ihre Produkte nun auch in Regenbogenfarben verpackt vermarktet.

Vielmehr ist jetzt zu Beginn der diesjährigen Pride-Saison und der queeren Straßenfeste noch Gelegenheit darüber nachzudenken, wie wir unsere Begriffe und Symbole einsetzen und was wir damit meinen, wenn wir es tun.

Drücken wir mit „Vielfalt“ nur das Gegenteil von „hetero“ aus oder meinen wir wirklich alle, egal wen wir lieben, welchen Geschlechtsausdruck wir leben oder ob wir auf binäre Geschlechtermodelle gleich ganz pfeifen?

Sagen wir damit, dass auch Menschen mit psychischen, körperlichen oder kognitiven Einschränkungen gemeint sind und mit dabei sein sollen?

Verstehen wir unter „Vielfalt“, dass es egal ist, ob wir monogam oder promisk leben, Gutverdiener oder ohne Job sind, einen Fetisch haben oder Sexarbeiter*innen sind?

Meinen wir mit „bunt“, dass Hautfarbe und Herkunft keine Rolle spielen und dass es uns egal ist, ob jemand schon immer oder in zweiter Generation oder erst seit zwei Wochen bei uns lebt?

Wir sollten es.

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