ZWISCHEN DEN ZEILEN

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Wir schrieben Geschichte.

Stonewall ist dabei schon mehr als Geschichte. Es ist zur Legende geworden.

Foto: Jessica Purkhardt

Wie es bei Legenden so ist, weichen sie mit jedem Jahr, das seit dem Ursprungsereignis vergangenen ist, ein bisschen mehr von den historischen Tatsachen ab. Gleichzeitig wird ihnen von Jahr zu Jahr ein bisschen mehr Pathos beigemessen. Unbemerkt halten irgendwann Drachen, Goldschätze, Heldenfiguren und göttlicher Einfluss Einzug und sie werden zu Sagen und dann zu Märchen.

Hört man sich an, wie wir uns manchmal gegenseitig die Ereignisse der Juni-Nächte in der Christopher-Street erzählen, könnte man den Eindruck gewinnen, vor 50 Jahren sei eine Phalanx muskulöser, schwuler Männer mit schweißglänzenden Oberkörpern für höchste Ideale einer uniformierten Übermacht entgegen getreten.

Nun, so war es nicht.

Vielmehr waren es Queers, Stricher, Transgender, Lesben und natürlich auch Schwule, die während einer Razzia, wie sie zuvor im Village schon unzählige Mal stattgefunden hatte, zunächst unwillkürlich einige organisatorisch labile und korrupte Polizeistreifen übertölpelten und mit ihnen Katz und Maus spielten.

Ähnliches hatte es in den Jahren zuvor auch schon in anderen US-Metropolen stattgefunden, war aber weitgehend undokumentiert geblieben.

Wichtig ist bei allem, dass wir weiter Geschichte schreiben und wenn in nochmal 50 Jahren am Ende des Regenbogens der Topf voll Gold aus der Stonewall-Legende auf uns wartet, soll es uns nur recht sein.

Foto: flickr Nutzer jiihacxi/CC BY-SA 2.0

The street tells our story“

Bereits drei Jahre vor der vielbesungenen Initialzündung der queeren Emanzipation vor der Pinte „Stonewall Inn“ hatten Trans*frauen in San Francisco im sogenannten „Compton’s Café Riot“ mit zornig geschwungenen Handtaschen, fliegenden Aschenbechern und Besteck gegen polizeiliche Willkür und Missbrauch aufbegehrt. Den Zeitungen war es damals kaum eine Nachricht wert. Worum es damals wirklich ging, blieb selbstredend unerwähnt.

Mit Stonewall gemein hat jenes Ereignis allerdings, dass es den Widerspruch gegen Homo- und Transphobie, Diskriminierung und Gewalt erstmals sichtbar in die Öffentlichkeit trug.

Es beendete gleichsam die bis dahin herrschende Hilflosigkeit, trug zur Selbstvergewisserung bei und mündete in eine kollektive Empfindung von „Stolz“ im Sinne von „Pride“.

Dabei ist es wichtig, dass Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang als die echte, analoge Lebensrealität von LGBTIQ* zu verstehen ist. Nicht die Blogs, Feuilleton-Spalten, Facebook-Kommentare und Pressemitteilungen von Politiker*innen und Interessenverbänden. Und auch diese Kolumne ist selbstverständlich weder eine Reflektion der queeren Wirklichkeit noch eine umfassende Wiedergabe der Wahrnehmung in den verschiedenen LGBTIQ*-Communities.

Papier ist nämlich genauso geduldig wie Online-Petitionen. Algorithmen helfen uns darüber hinaus noch dabei, möglichst in der gleichen selbstreferenziellen Filterblase zu bleiben, in der die eigenen Ansichten Zuspruch erfahren und der Widerspruch erst gar nicht angezeigt wird.

Das ist angenehm, hilft aber nicht weiter.

Denn schon Jahre vor Stonewall hatten viele Vertreter*innen der Homophilen-Bewegung - ein Vorläufer der heutigen LGBT*IQ-Bewegung - versucht, durch bienenfleißigen Versand von Positionspapieren an politische Vertreter*innen und Nachahmung heteronormativer Lebensentwürfe, Anerkennung ihrer Belange zu finden.

Es brauchte aber die Entladungen in der Christopher-Street und die darauffolgenden Protestmärsche in den ohnehin schon atmosphärisch aufgeladenen 60er und 70er Jahren, um gemeinsam genug Momentum aufzunehmen, immer und immer wieder öffentlich sichtbar für die eigene rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung einzutreten.

Wer schreibt, der bleibt

In der Rückschau auf die vergangenen 50 Jahre wird nämlich auch deutlich, wie viele Lücken die LGBT*IQ-Geschichtsschreibung aufweist. Der Anteil schwuler Männer an ihr ist dabei noch am besten dokumentiert. Was Lesben damals gedacht und gemacht haben, findet sich auch, aber weniger.

Weit abgeschlagen ist die Historie der Trans*-Community. Dabei spielen in den Erzählungen über die krawalligen Nächte vor dem Stonewall Inn Transgender eine Hauptrolle und auch auf den Pride-Demos der kommenden Jahre sind viele von ihnen in der ersten Reihe zu sehen. Was für sie Stonewall und die Jahre danach bedeutete, ist jedoch für das kollektive queere Wissen fast vollständig verloren gegangen.

Die öffentliche Sichtbarkeit kann also gleichzeitig Party, Protest, Politik und Geschichtsschreibung sein. Denn durch diesen Mix ergibt sich ein umfassendes Bild, wer wir sind, wieviele wir sind, wie unterschiedlich wir sind und wer sich schon längst mit uns verbündet hat.

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