ZWISCHEN DEN ZEILEN im Juli 2020

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Flatterband, Plexiglas und „Reserviert“-Schildchen prägen wie überall sonst auch die Atmosphäre unserer LGBTIQ*-Lokale. Manche Gäste wagen es noch immer nicht wieder auszugehen, weil sie sich um ihre Gesundheit sorgen. Andere sind wieder da, übererfüllen die Abstandsgebote um das Doppelte und tragen ihren Mundschutz so konsequent und selbstverständlich, dass sie ihn erst dann bemerken, wenn der erste Schluck Weißwein deutlich trockener ausfällt als sonst. Wieder andere benehmen sich, als wäre alles bloß ein schlechter Traum gewesen, werfen die Arme auf, um sich gegenseitig zu herzen, und wenn sie mir was erzählen, stehen sie dabei so nahe, dass auch die Vor-Corona-Wohlfühldistanz deutlich unterschritten wird. Das ist ziemlich rücksichtslos. Denn wenn jemand keine Bedenken hat, gilt das zunächst leider nur für ihn selbst und nicht zwangsläufig auch für das Gegenüber. Solche Situationen lassen sich natürlich überall beobachten, nicht nur in queeren Bars. Aber bei denen ist es besonders wichtig, dass sich alle Menschen dort wohl und sicher fühlen und nicht manche lieber zu Hause bleiben, weil sie um ihre Gesundheit fürchten. Wenn wir in der gegenwärtigen Situation etwas einüben können, dann ist es, die Bedürfnisse anderer Menschen noch mehr zu respektieren und aufeinander aufzupassen. Fähigkeiten, die auch nach Corona unverzichtbar sein werden.

Die Suche nach dem Impfstoff

Krise ist ja eigentlich immer. Oft sogar mehrere gleichzeitig. Die Wahrnehmung, welche davon die bedrohlichste ist, unterscheidet sich durch die eigene Perspektive. Lungenvorerkrankte und Angehörige anderer Risikogruppe fürchten sich zu Recht vor einer Infektion mit dem Corona-Virus. Das tun auch Menschen mit dunkler Hautfarbe. Nur die fürchten sich gleichzeitig noch an der Kasse beim Drogeriemarkt, vor der ganzen Schlange erniedrigt zu werden, wenn sie wieder mal als Einzige beim Bezahlen mit ihrer EC-Karte ihren Ausweis zeigen müssen. Letzteres war bekanntlich vor der Corona-Pandemie schon so und wird es traurigerweise auch noch sein, wenn wir längst wieder vollständig gelockert sind, Mund-Nase-Bedeckung abgestreift haben, die Discounterregale mit Toilettenpapier, Backhefe und Nudeln überquellen und der wohlverdienten Fernreise nichts mehr im Wege steht.

Gibt es einen Impfstoff gegen Rassismus und Vorurteile? In den letzten Jahrhunderten haben wir ihn zumindest noch nicht gefunden. Allerdings haben wir auch noch nie versucht, in einem mit Milliarden finanzierten, globalen Kraftakt einen zu finden. Deshalb ist es auch heute noch so, dass während die einen in Bauchlage beatmet werden, gleichzeitig anderen in Bauchlage die Luft abgedrückt wird.

Vorurteile zu haben, steckt ziemlich tief in uns drin und ist eine prähistorische Empfindung. Diese archaischen Impulse zu überwinden, ist eine ständige zivilisatorische Aufgabe. Bei den meisten ist es uns gelungen. Wir schlagen unserem Nächsten nicht mehr einen Faustkeil für ein fauliges Stück Fleisch über den Scheitel. Und nur 12.000 Jahre, nachdem der letzte Säbelzahntiger das letzte Mal fauchte, sitzen wir völlig angstfrei mit der schnurrenden Hauskatze auf dem Schoß, wischen mit dem Daumen durch die Dating-Apps – und haben immer noch Vorurteile.

Foto: Flickr Nutzer Dwight Sipler/CC BY 2.0

Auch die weltgewandten, toleranten Queers haben auf diesen Plattformen bis neulich noch regen Gebrauch von der Sortierung nach „Ethnien“ gemacht. Das geht nun nicht mehr, und das ist gut so.

Zwischen Empörungsökonomie und Rechtfertigungsdruck

Unverändert ist dagegen das Blutspendeverbot für homo-, bisexuelle und transgeschlechtliche Menschen. Während der Hochphase des Corona-Lockdowns begegnete uns fast täglich der drängende Alarmruf, dass die Blut- und Plasmakonserven zur Neige gingen. Auf Blut war und ist man dringend angewiesen. Nur offenbar nicht auf das von Schwulen. Beziehungsweise nicht auf das von Schwulen, die sagen, dass sie schwul sind und ihre Sexualität leben. Wer es nicht offenlegt, der kann spenden. Für das Blutspendeverbot liegt kein rationales Argument vor. Wo das so ist, handelt es sich um ein Vorurteil. Statt nun weiter ständig zwischen Empörungsökonomie und Rechtfertigungsdruck hin und her zu pendeln, sollten wir uns klarmachen, dass Ressentiments gegen einzelne Teile der Gesellschaft ihr immer auch als Ganzes schaden. Selbst dann, wenn wir in dem Moment nicht unbedingt davon betroffen sind, gibt es in einer vernetzten Sozialstruktur immer Rückwirkungen auf uns selbst. Jeder Einsatz von Zeit, Kraft und Engagement gegen Vorurteile lohnt sich deshalb für uns alle.

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