Kolumne: Höher, schneller, inklusiver

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Nun beginnt die heiße Phase, in der es um alles geht. In der Entscheidungen fallen werden, die nicht nur die nächsten vier Jahre Bestand, sondern die für nicht wenige Menschen in diesem Land grundsätzlich einen hohen Stellenwert haben. Die Einzelkämpfer*innen der Riege müssen jetzt vor großem Publikum auf sich allein gestellt ihre mentale Stärke beweisen, während andere als Team zusammenstehen, maximalen persönlichen Einsatz zeigen und trotzdem die eigenen Ansprüche hintanstellen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Wir werden erleben, wie sie die Ergebnisse langer, mühevoller Vorbereitung feiern, ihre Niederlagen verwinden, sich immer wieder neu motivieren und doch oft auch Verletzungen verkraften müssen. Die Gratwanderung zwischen tränenblindem Jubel und bleiernen Niederlagen fasziniert mich dabei mindestens genauso wie die Menschen, die allen Widerständen zum Trotz mit Leidenschaft und Idealismus nicht nur das verwirklichen, was ihnen wichtig ist, sondern gleichzeitig so vielen anderen neue Kraft und Mut zusprechen. So sehr ich unseren Aktiven auch die Daumen drücke, freue ich mich diesen Monat bei den Paralympischen Spielen von Tokyo für alle Sportler*innen mit Behinderung, dass sie trotz der Widrigkeiten der Corona-Pandemie dabei sein können. Mit Medaille oder ohne – allein das ist schon ein gewaltiger Erfolg.

Ist dabei sein alles?

Außer Kindern im Grundschulalter nach verlorenem Kartoffelwettrennen tröstet der Slogan „dabei sein ist alles“ kaum jemanden. Erst recht keine Spitzensportler*innen, die bei einem internationalen Wettkampf für eine Stufe auf dem Treppchen gehandelt wurden, dann aber wegen Sturz, Wetter oder Verletzung weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen gelandet sind. Der Satz, der gemeinhin als olympische Maxime gilt, wird Pierre de Coubertin zugeschrieben, der die Olympischen Spiele der Neuzeit wiederbelebte. Gesagt hat er ihn aber so nicht. Vielmehr kommentierte er den Disput zwischen amerikanischen und britischen Läufern um den Sieg beim 400-Meter-Sprint bei den Spielen 1908 in London mit den Worten: „Das Wichtigste bei den Olympischen Spielen ist nicht zu gewinnen, sondern daran teilzunehmen.“ Klingt ähnlich, ist aber ein großer Unterschied. Denn damit geht es um Teilhabe. Im Sport, der sich von den Turnübungen des 19. Jahrhundert mit seinen durchgezogenen Stützgrätschwinkeln, rückwärtsgerollten Schrittsprüngen und Felgaufschwüngen aus der Drehhocke innerhalb von hundert Jahren zu einem Multi-Milliarden-Euro-Geschäft entwickelte, ist diese Partizipation umso wichtiger.

Foto: pxhere.com / CC0

Es ist bedeutsam, dass Menschen mit Behinderung ihre sportlichen Leistungen in den olympischen Wettkampfstätten mit anderen messen können, wo kurz zuvor auch die Olympioniken ohne Einschränkungen miteinander konkurrierten. Die vermehrten Sportberichte und Fernsehübertragungen der Paralympischen Spiele sind ein weiterer Fortschritt. Noch 1984 weigerte sich das Organisationsteam der Olympischen Spiele von Los Angeles die Spiele für Menschen mit Behinderung durchzuführen, weil dies „nicht in das professionelle Image von LA passe.“ Ein Scheingrund, der die bewusste Ausgrenzung mehr entlarvte, als sie zu verdecken, und der an einige Ausflüchte und Verweise auf die politische Neutralität erinnert, die in jüngerer Zeit gegenüber regenbogenfarbigen Bekenntnissen bei internationalen Sport-Spektakeln zu hören waren.

Partizipation, Inklusion und persönliche Bestleistung

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Begabung zu sportlichen Spitzenleistungen unter den Menschen gleich verteilt ist und damit auch unter LGBTIQ*. Dennoch ist jedes Outing einer*s Spitzensportler*in noch immer eine Nachrichtenmeldung wert. Denn es sind wenige. Participation, inclusion, personal best lautet deshalb das Credo der Gay Games und ist damit gleichzeitig eine sportpolitische Forderung. Von diskriminierungsfreier Teilhabe sind viele homosexuelle und transidente Sportler*innen weit entfernt. Ein Outing bedeutet für zu viele im Freizeitsport noch immer Ausgrenzung oder gar Übergriff. Im Profisport droht der Verlust von Trainer*innen, Sponsoringeinkünften oder der Ausschluss aus dem Kader. Die Forderung nach Inklusion im Sport ist deshalb wichtiger als bloße Integration. Die Ungleichheitsforschung beschreibt Integration als Eingliederung in eine vorgegebene, also hetero- und cisnormative Gesellschaft. Queere Menschen werden darin aber lediglich toleriert. Inklusion erfordert deshalb vielmehr, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse verändern und Widerstände aufgegeben werden, die Lesben, Schwule und Transgender bislang von zwangloser Teilhabe im Sport ausschließen. Wie in allen anderen Lebensbereichen ist grundsätzliche Akzeptanz das Ziel. Auch LGBTIQ* reicht es nicht, einfach nur geduldet zu werden und bloß irgendwo am Rand dabei zu sein. Auch sie möchten ihre sportliche Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. So hatte auch Olympia-Neugründer Pierre de Coubertin als olympisches Motto citius, altius, fortius (schneller, höher, stärker) im Sinn – denn natürlich geht es im Sport in aller Regel um Bestleistungen und das Gewinnen. „Dabei sein ist alles“ gilt nur beim Sex.

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