Kolumne: Mehr Selbstbestimmung wagen

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Zwei transgeschlechtliche Menschen gehören dem Bundestag nun an. Sie sind dort dem Vernehmen nach möglicherweise nicht die Ersten ihrer Art, aber die ersten geouteten. Das Bohei, das um ihren Einzug in das Hohe Haus gemacht wird, zeigt vor allem, wie unerfahren unsere Gesellschaft und ihre Institutionen im Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt sind. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Menschen sich in Deutschland als Trans* identifizieren. Jedoch legen die Zahlen der jedes Jahr nach dem sogenannten Transsexuellengesetz vollzogenen Vornamens- und Personenstandsänderungen nahe, dass allein hier mit einigen Hunderttausend Personen zu rechnen ist, wobei nicht einmal alle diesen formaljuristischen, teuren und demütigenden Weg bestreiten wollen. Die Existenz dieser vielen Menschen war bisher im höchsten deutschen Parlament jedoch nicht sichtbar. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie zeichnet sich eigentlich besonders durch die proportionale Vertretung aus, die gewährleisten soll, dass Minderheiten im politischen Prozess mehr Gehör und Berücksichtigung finden. Allerdings eben nur, wenn sie auch tatsächlich in den Parlamenten vertreten sind. In diesem Sinne ist dieser Bundestag ein großes Stück gerechter geworden, denn so trans* war er noch nie.

In der Minderheit in der Minderheit

Bislang war die trans* Minderheit innerhalb der queeren Minderheit immer nur Zaungast, die außerhalb der Volksvertretungen des Bundes stehend beobachten musste, wie dort andere ihre Belange verhandelten. Oder auch nicht. Es ist dabei nicht so, dass die lesbisch-schwulen Abgeordneten-Netzwerke innerhalb der Bundestagsfraktionen bislang nicht für die Sache der Trans*Community eingetreten wären. Auch jene aus den konservativen Fraktionen, die den Oppositionsanträgen für ein zeitgemäßes Selbstbestimmungsgesetz immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen hatten. Trotzdem hat das völlig veraltete, wissenschaftlich längst überholte, von den Betroffenen als erniedrigend empfundene und vom Bundesverfassungsgericht mehrfach innerlich ausgehöhlte Transsexuellengesetz (TSG) immer noch Bestand. Als es vor vierzig Jahren in Kraft trat, war es das erste Mal, dass transidenten Menschen in Deutschland eine rechtliche Möglichkeit eingeräumt wurde, in einem standardisierten Verfahren ihren Vornamen und Personenstand gemäß ihrem individuellen Geschlechtsempfinden zu ändern. Damals war das fortschrittlich. Heute haben selbst konservativ geprägte Länder in Europa fortschrittlichere Gesetze zur selbstbestimmten Festschreibung von Geschlechtseintrag und Namen bei trans* Personen. Dem eigenen Bekunden nach haben bis auf eine alle im Bundestag vertretenen Parteien die Neufassung eines Gesetzes für transidente Menschen auf der To-do-Liste. Leider aber offenbar mit so niedriger Priorität, dass dieses wichtige menschenrechtspolitische Anliegen auch kurz vor der Bundestagswahl noch der Koalitionsdisziplin geopfert wurde. Einmal mehr wurden die Menschen, die auf eine baldige, einfachere Lösung gehofft hatten, bitter enttäuscht.

Foto: flickr Nutzer Open Grid Scheduler/Public Domain

„Go“ für mehr Selbstbestimmung

Die Suizidraten unter trans* und nicht-binärgeschlechtlich empfindenden Menschen ist in den Reihen der queeren Communitys eklatant hoch. Die humanitär gebotene Regelung der Anliegen dieser Menschen ist deshalb keine Kür, sondern eine Pflichtaufgabe, deren Lösung die Bundesregierungen der letzten beiden Jahrzehnte versäumt haben. Drei Parteien haben bei der Wahl zum 20. Bundestag bemerkenswerte Stimmenzugewinne verzeichnen können. Zwei ihrer Bundestagsfraktionen haben kurz vor dem Ende der Legislaturperiode ihre nahezu identischen Anträge zur Einführung eines modernen Selbstbestimmungsgesetzes vorgelegt. Die größte der drei Parteien hatte als Teil der Bundesregierung in ihrem Ressort ebenfalls an einem eigenen Entwurf gearbeitet, ohne ihn jedoch bis zur Beschlussreife zu bringen, und schließlich ganz auf Eis gelegt. Ähnlich wie im Vorfeld der sogenannten „Ehe für alle“ gibt eine Mehrheit der Bundesbürger*innen in Umfragen an, keine Probleme damit zu haben, trans*geschlechtlichen Menschen mehr Selbstbestimmung über sich selbst einzuräumen, und die Wähler*innen haben schließlich sogar zwei trans* Frauen in den Bundestag entsendet. Nun stehen also politisch wie gesellschaftlich alle Signale auf „Go“, um endlich in einem wesentlichen queerpolitischen Handlungsfeld die lang vertane Reform nachzuholen und eine von vielen Seiten gerügten Rechtspraxis zu ändern, die für Deutschland schon lange kein Ruhmesblatt mehr ist. Es ist höchste Zeit dafür.

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