ZWISCHEN DEN ZEILEN im Dezember 2020

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Der Überlieferung nach soll der wahnsinnige Kaiser Nero Rom angezündet und danach mit seiner Lyra vom Palast-Balkon auf seine brennende Stadt herab gesungen haben. In Teilen scheint dieses Bild auf üble Nachrede einiger Geschichtsschreiber zurückzugehen. Dagegen ist gesichert, dass der scheidende US-Präsident Trump nachts vor den laufenden FOX-Nachrichten saß und per Twitter Öl ins Feuer goss, während draußen die Vereinigten Staaten seelisch und oft genug auch tatsächlich brannten. Nachdem mit der US-Präsidentschaftswahl der Spuk nun vorüber ist, atmen wir nicht nur in Europa auf. Besonders die LGBTIQ*-Community in den USA hatte sich vor einer erneuten Amtszeit Donald Trumps gefürchtet. Schon in der ersten war damit begonnen worden Transgender zu gängeln und unsichtbar zu machen. In der zweiten wäre wohl versucht worden, das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe rückgängig zu machen.

Foto: flickr Nutzer ErgsArt/Public Domain

Nun ist der Ausgang der US-Wahl also ein Hoffnungsschimmer am Ende eines Jahres, das ganz im Zeichen einer weltweiten Pandemie stand, die unseren bislang schrankenlosen Horizont sehr klein werden ließ. Eine gute Nachricht nach Monaten des Lockdowns, in denen uns zuletzt mörderische Terroranschläge in Deutschland und seinen Nachbarländern bewusst machten, dass weder eine globalisierte Welt noch eine offene Gesellschaft selbstverständlich sind und immer auch einen Preis haben.

Fehlende Schlagzeilen

Dass man die offene Gesellschaft verteidigen werde, ist nach gegen sie gerichteten Bluttaten eine übernutzte Floskel in Politik und Medien. Beim Benennen wer den Preis zahlte, taten sich Behörden und Medien in jüngster Zeit dagegen schwer. Nach der Messerattacke auf ein schwules Paar in Dresden, bei dem einer der Männer durch einen islamistischen Extremisten getötet, der andere schwer verletzt wurde, räumte man dem mutmaßlich homosexuellenfeindliche Tathintergrund in den öffentlichen Stellungnahmen über Wochen nur einen geringen Stellenwert ein. Während im Nachbarland Österreich nach tödlichen Anschlägen die Nationalflaggen auf Halbmast gesetzt werden und sich in Frankreich ein Staatspräsident vor dem Sarg eines Lehrers verneigt, verschweigen öffentliche Stellen hierzulande ein wichtiges Tatkennzeichen. Dabei ist die Tatsache, dass die Opfer Schwule waren, maßgeblich für die Einordnung als Hassverbrechen in der öffentlichen Debatte. Als solches ist es nämlich von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und hätte sich in umfassender Berichterstattung niederschlagen müssen. Längst schaffen es LGBTIQ* regelmäßig auf die Titelseiten und in die Abendnachrichten. Meist im Sommer während der CSD-Saison, gutgelaunt, mit bunter Perücke oder Federboa. Werden sie wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität gedemütigt, verletzt oder – wie zuletzt in Dresden – ermordet, findet sich der Bericht wenn überhaupt weiter hinten in den Rubriken „Vermischtes“ oder „Gesellschaft“.

Foto: Flickr Nutzer GoToVan/CC BY 2.0

Ein objektives Bild, wie es um die Unversehrtheit und das Sicherheitsempfinden von Lesben, Schwulen und Transgendern bestellt ist, zeichnen lediglich die queeren Medien. Sofern die Informationen über homo- und trans*feindliche Angriffe sie erreichen. Außerhalb der Berliner queeren Filterblase, wo es unabhängige Projekte zur Dokumentation solcher Übergriffe gibt, Polizei und Staatsanwaltschaft besonders sensibilisiert sind, stagnieren sie meist unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsgrenze.

„Was wollt ihr denn noch?“

Bleiben homo- und trans*feindliche Straftaten aber überwiegend unsichtbar, ergibt sich für die Gesamtgesellschaft ein wirklichkeitsfernes Zerrbild, das geprägt ist von gleichgeschlechtlichen Ampelpärchen, Regenbogenflaggen und Gendersternchen und ihr die Möglichkeit nimmt zu erfahren, welchen Gefahren und Sorgen eine Minderheit in ihrer Mitte ausgesetzt ist. Dann bleiben die Bilder in den Köpfen von den Homosexuellen, die oberkörper- und sorgenfrei auf einer Pride-Parade durch die Innenstadt tanzen und die Frage wird laut: „Was wollt ihr denn noch? Ihr habt doch alles erreicht.“ 

Viel zu oft unausgesprochen bleibt die Antwort darauf: Dass wir in den Nachtstunden in denselben Innenstädten nicht auf das Händchenhalten mit  unseren Partner*innen verzichten oder diese Orte nach Möglichkeit meiden müssen, um unbehelligt zu bleiben.

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