ZWISCHEN DEN ZEILEN im November 2020

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Die Freude ist groß, wenn die Tür aufgeht und der Rollator im Zeitlupentempo, aber zielstrebig wie eh und je, auf den Stammplatz am Tresen der Frankfurter Szene-Bar zusteuert, der eilfertig geräumt wird. Mit seinen heute 97 Jahren ist „die Prinzessin“ nur knapp am Kaiserreich vorbeigeschrammt, hat die dunkelste Zeit des 20. Jahrhunderts überlebt und die auch danach fortgeführte Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik überstanden. Er ist ein bescheidener Mann und macht in seinem Alter nicht mehr viele Worte. Obwohl er einiges zu erzählen hat. Dabei ist unwahrscheinlich, dass er ausgerechnet ein Lamento über die unlängst in einigen deutschen Städten ausgerufene Sperrstunde anstimmt. Um 23 Uhr, da Frankfurter Klubbesucher erst unter die Dusche gehen und man in Berlin aus dem Mittagsschlaf erwacht, hat „die Prinzessin“ schon längst wieder das Gefährt zwischen den Barhockern durchmanövriert und den Heimweg angetreten.

His Story

LGBTIQ* sind nicht nur vielfältig, sondern haben auch sehr verschiedene Lebensalter und -erfahrungen. In ihrer Gesamtheit bilden sie die Zeitgeschichte ihrer Communitys. Sie ist wertvoll, denn jede Subkultur braucht eine Vergangenheit, aus der sie hervorgegangen ist, und diese Vergangenheit begründet, warum unsere Szene heute so ist, wie sie ist. Gleichzeitig können die Erzählungen früherer queerer Generationen Herausforderungen der Gegenwart einordnen und ihnen den Stachel nehmen. Manchmal zuzuhören lohnt sich also.

Foto: Friedrich-Naumann-Stiftung

Die Gelegenheiten dazu sind ohnehin rar. Aufzeichnungen und Sachliteratur über die LGBTIQ*-Vorzeit finden sich erwartungsgemäß mehrheitlich aus der Schwulenbewegung, über die Aids-Katastrophe, den Paragraf 175, die Verfolgung in der NS-Zeit. Einiges lässt sich noch über die Goldenen Zwanziger lesen. Überlieferungen aus der Zeit davor erzählen dann oft nur noch subjektiv, bruchstück- oder legendenhaft von gleichgeschlechtlichem Lieben und Zusammenleben von Männern.

Her Story

Noch weniger dokumentiert ist die lesbische Subkultur, ihre Persönlichkeiten, Kämpfe, Verfolgungen und Lebensrealitäten. Freilich gibt es einiges Großartiges, doch selbst namhafte Autorinnen der lesbischen Geschichtsschreibung müssen in ihren Büchern nicht selten eingestehen, dass vieles durch das Lebensende von Zeitzeuginnen unwiederbringlich verloren ist, anderes nie aufgeschrieben wurde und auch die pedantischen Nazis die Verfolgung und Ermordung von frauenliebenden Frauen, wenn überhaupt, nur verklausuliert vermerkt haben, sodass auch hier bis heute vieles im Unklaren liegt. Selbst die Repressionen gegenüber lesbischen und bisexuellen Frauen in der Bundesrepublik sind bis heute nicht erforscht.

Foto: flickr User Dr Les (Leszek - Leslie) Sachs/CC BY 2.0

Derzeit untersucht in Deutschland nur eine freiberufliche Historikerin im Auftrag des Landes Rheinland-Pfalz die Verfolgung lesbischer Mütter durch Sorgerechtsentzüge. Die Wissenschaftlerin berichtet von extrem zeitaufwendigen Recherchen und großen Problemen beim Auffinden von Zeitzeuginnen, sodass derzeit offen ist, ob und wann Ergebnisse der nunmehr dreijährigen Forschungsarbeit veröffentlicht werden können. Es ist nicht so, dass das Wissen und die Recherchematerialen durch Ableben von Zeitzeuginnen oder Kriegswirren vollständig verloren gegangen wären. Immerhin kam es bis 1990 vor, dass lesbischen und bisexuellen Müttern durch kommunale Behörden das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen wurde. Darüber hinaus kommen Dokumente über Verfahren zur Ehetauglichkeit, Kuppelei, Entmündigung und Selbsttötungen für die Aufarbeitung bundesrepublikanischer Lesbenverfolgung infrage. Weil aber die sexuelle Orientierung von Menschen in den Akten nicht als Filterkriterium vorgesehen ist, bleibt die Durchsicht der Unterlagen aus dem Zeitraum von 1945 bis heute eine Fleißarbeit, der zusätzlich einige datenschutzrechtliche Hürden im Wege stehen.

Their Story

Geradezu ausgezeichnet sind die Chroniken von Schwulen und Lesben verglichen mit Aufzeichnungen über die Lebenserfahrungen von unter dem Sammelbegriff Trans* zusammengefassten Transsexuellen, Transidenten, Transgendern, Crossdressern, Transvestiten, nicht-binärgeschlechtlichen, genderfluiden und -queeren Menschen. Erst mit dem Jahr 1981 betritt diese Bevölkerungsgruppe die Bühne bundesrepublikanischer Statistiken. Denn mit dem ab diesem Zeitpunkt gültigen Transsexuellengesetz hatten Trans* die Möglichkeit, Personenstand und Vornamen ändern zu lassen. Zumindest die entsprechenden Verfahren bei Gericht sind seitdem statistisch erfasst. Über die alltäglichen Herausforderungen und Lebensrealitäten vergangener trans* Generationen geben diese Erhebungen dagegen keine Auskunft. Recherchen dazu enden oft in den Sackgassen von Kleinkunstbühne und Medizinhistorie.

Foto: flickr User Gary Stevens/CC BY 2.0

Allerdings erschienen von trans* Menschen in den zurückliegenden Jahrzehnten zunächst wenige, mittlerweile in jedem Jahr mehrere Biografien. Das liegt daran, dass ihre Lebenswege bis zur Verwirklichung des Wunsches nach einem Leben in der für sie richtigen Geschlechtsidentität oft langwierig, dramatisch, verworren und besonders persönlich sind. Darüber hinaus ist das Verfassen eines Buches über das Erlittene, Erlebte und Erreichte eine bewährte Verarbeitungsstrategie. Dass nun zunehmend Lebensbeschreibungen von jüngeren Menschen auf dem Buchmarkt erscheinen, deren Transitions-Erzählungen sich vermehrt ähneln, in denen Gewalterfahrung, Ausgrenzung, Depression und sexuelle Ausbeutung anders als in denen ihrer trans* Vorfahr*innen immer weniger eine Rolle spielen, lässt sich als ein gutes Zeichen von beginnender Normalität auch für Trans* deuten.

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