James-Webb-Weltraumteleskop: Neue Details in der Namensdebatte

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Hat die NASA Beweise zurückgehalten, um die Benennung des Weltraumteleskops nach James Webb nicht zu gefährden? Kürzlich veröffentlichte E-Mails zeigen: Die Weltraumbehörde weiß viel mehr über Webbs problematisches Erbe, als sie behauptet.

Seit 25. Dezember gewährt das James Webb Space Telescope (JWST) der Menschheit tiefe Einblicke in schwarze Löcher. Weil dessen Namensgeber, der ehemalige NASA-Chef James Webb, in den 1950er und 1960er Jahren an der Verfolgung von Schwulen und Lesben beteiligt gewesen war, setzten sich vier Forscher*innen vor dem Start des Teleskops dafür ein, den Namen der zehn Milliarden Dollar teuren Mission zu ändern. Ohne Erfolg, denn die Leitung der Weltraumbehörde lehnte es eine Namensänderung des Projekts ab (männer* berichtete). 

Foto: NASA Goddard Space Flight Center / CC BY 2.0 / wikimedia.org

NASA: Kein Interesse an Aufarbeitung ihrer Geschichte

James Webb, der 1961 den Posten des Direktors der NASA annahm, muss aufgrund seiner Führungsrolle von der gezielten Säuberung gewusst haben. Wahrscheinlich ist, dass er für die Umsetzung der damaligen Bundespolitik mitverantwortlich war. Vor diesem Hintergrund starteten vier Astronom*innen – Lucianne Walkowicz vom Adler-Planetarium in Chicago, Chanda Prescod-Weinstein von der University of New Hampshire, Brian Nord vom Fermi National Accelerator Laboratory in Batavia und Sarah Tuttle von der University of Washington – eine Petition zur Umbenennung des Teleskops. „Wir waren der Meinung, dass wir öffentlich Stellung beziehen sollten, wenn eine so wichtige Einrichtung nach jemandem benannt werden soll, dessen Werte so fragwürdig waren“, schrieben die vier Astronom*innen in einer E-Mail an Nature. Mehr als 1.200 Menschen, darunter zahlreiche Wissenschaftler*innen, haben die Petition unterzeichnet.

Als Reaktion auf diese Bedenken begann die NASA mit einer internen Untersuchung historischer Dokumente, die Aufschluss über Webbs Verhalten gegenüber Schwulen und Lesben geben könnten. Der amtierende Chefhistoriker der NASA, Brian Odom, sagte am 31. September 2021, er habe keine Informationen in den Archiven der NASA gefunden, die darauf hindeuten, dass die Entlassung von Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung unter Webb stattgefunden habe. Bill Nelson, Chef der NASA, betrachtete den Fall als abgeschlossen und erklärte gegenüber einigen Medien, darunter Nature, lapidar:

„Wir haben derzeit keine Beweise gefunden, die eine Änderung des Namens des James Webb Space Telescope rechtfertigen.“ 

Foto: Saul Loeb / Pool / AFP

400 Seiten E-Mail-Verkehr offenbaren neue Details 

Ende März 2022 kamen nun neue Details der Namensdebatte ans Licht. Die Fachzeitschrift Nature hatte einen Antrag auf Informationsfreiheit (Freedom of Information Act, FOIA) gestellt und fast 400 Seiten E-Mail-Verkehr erhalten, die Nature im Internet veröffentlichte. Die E-Mail-Korrespondenz „zeichnet ein krasses Bild davon, wie Astronomen außerhalb der LGBTQ+-Gemeinschaft die Erfahrungen ihrer queeren Kollegen abtun, und macht deutlich, dass die Diskriminierung von queeren Menschen in der heutigen Astronomie lebendig ist“, sagen die vier Astronom*innen, die die Community-Petition anführten. 

Die E-Mails verdeutlichen, dass hinter den Kulissen sehr wohl bekannt war, wie problematisch Webbs Erbe ist, und geben Aufschluss darüber, wie die NASA die Angelegenheit bisher untersucht hat. So geht aus den internen Dokumenten, die Nature und andere erhalten haben, hervor, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung von einem Berufungsurteil aus dem Jahr 1969 wusste, das besagt, dass es bei der NASA üblich war, Menschen wegen des Verdachts auf ihre sexuelle Orientierung zu entlassen. In dem Fall ging es um einen ehemaligen NASA-Mitarbeiter, der 1963 entlassen worden war, weil seine Vorgesetzten dachten, er sei schwul. Zu dieser Zeit leitete Webb die Behörde.

In einer anderen E-Mail, die Nature im Rahmen der FOIA erhalten hat, erwähnt ein Redakteur, was in Archivdokumenten stehen soll, die im Buch The Lavender Scare aus dem Jahr 2004 beschrieben werden. Demnach habe sich Webb am 22. Juni 1950 mit Präsident Truman getroffen, um zu klären, wie das Weiße Haus, das Außenministerium und das Huey-Komitee bei der Untersuchung von Homosexuellen zusammenarbeiten könnten. Zwei Jahre später, noch bevor Webb von seinem Posten zurücktrat, wurde eine große Anzahl von LGBTIQ*-Mitarbeiter*innen aus dem Außenministerium entlassen. (HIER geht es zu einem interessanten Interview mit David K. Johnson, dem Autor des Buches The Lavender Scare).

Beunruhigend: Umgang mit LGBTIQ*-Kolleg*innen

Die NASA erklärt auf ihrer Website und anderswo, dass sie Vielfalt, Gerechtigkeit, Inklusion und Barrierefreiheit unterstützt. „Die NASA setzt sich voll und ganz für die volle Beteiligung und Ermächtigung einer Vielzahl von Menschen, Organisationen, Fähigkeiten und Vermögenswerten ein, weil wir wissen, dass dies uns am besten ermöglicht, auf alle und alles zuzugreifen, was wir brauchen, um unsere Missionen bestmöglich zu erfüllen“, heißt es in der Grundsatzerklärung der NASA. Doch „[w]enn man sich manche E-Mails durchliest, bekommt man den Eindruck, dass wir LGBTQ+-Wissenschaftler und die von uns geäußerten Bedenken nicht von Belang sind“, sagt Yao-Yuan Mao von der US-amerikanischen Rutgers University. Mao pflegt die Astronomy and Astrophysics Outlist, eine Liste mit Namen von LGBTIQ*-Forscher*innen auf dem Gebiet der Astronomie und Astrophysik, die sich so vernetzen und auf diese Weise mehr Gehör verschaffen wollen. 

Besonders ärgert viele LGBTIQ*-Astronom*innen eine in den E-Mails erwähnte Episode, in der NASA-Direktor Paul Hertz nach eigenen Angaben mehr als zehn Mitglieder der Astrophysik-Gemeinschaft kontaktiert hätte. Keiner von diesen hätte sich jedoch gegen den problematischen Namen ausgesprochen. „Niemand hat gesagt, dass er enttäuscht wäre, wenn wir den Namen nicht ändern“, schrieb Hertz an seinen Manager. Allerdings, schrieb Hertz weiter, identifizierte sich von den befragten Personen auch niemand als LGBTIQ*.

„Ich habe über ein Jahrzehnt eng mit Paul Hertz zusammengearbeitet und betrachte ihn als Kollegen und Mentor“, zitierte die Fachzeitschrift Spektrum den Astronomen Scott Gaudi von der Ohio State University. „Er kennt mich. Er weiß, dass ich schwul bin. Aber mich hat er nicht gefragt. Wieso nicht, verdammt noch mal?“, ärgert sich Gaudi.

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