Natalie Portman und Julianne Moore
Mit dem mit Barbie-Puppen gedrehten Kurzfilm „Superstar – The Karen Carpenter Story“ und seiner Jean Genet-Adaption „Poison“ begann Todd Haynes in den Neunzigern seine Karriere und wurde schnell zur Speerspitze sowohl des amerikanischen Independent-Kinos als auch des New Queer Cinemas. Mit „Velvet Goldmine“ setzte er zum Sprung Richtung Mainstream an, später wurden seine nicht nur visuell eindrucksvollen Filme wie das Melodrama „Dem Himmel so fern“ mit Julianne Moore, das ungewöhnliche Bob Dylan-Biopic „I’m Not There“ mit Cate Blanchett in einer Hosenrolle oder die lesbische Liebesgeschichte „Carol“ für mehrere Oscars nominiert. Haynes‘ neues Werk „May December“ mit seiner guten Freundin Julianne Moore, Natalie Portman sowie „Riverdale“-Star Charles Melton in den Hauptrollen kommt nun am 30. Mai endlich in die deutschen Kinos. Wir trafen den 63-Jährigen vergangenes Jahr in Cannes zum Interview.
Mr. Haynes, in Ihrem neuen Film „May December“ geht es unter anderem um den Fall einer Frau, die eine Affäre mit einem 13-Jährigen hatte, dafür ins Gefängnis kam und ihn dann später geheiratet hat. Diente Ihnen da ein wahrer Fall als Vorlage? Dass die Drehbuchautorin Samy Burch sich vom Fall von Mary Kay Letoruneau hat inspirieren lassen, ist sicherlich kein Geheimnis. Wobei man sagen muss, dass sie sich sehr viele Freiheiten herausgenommen hat und unsere Geschichte nun in den meisten Dingen weit entfernt, ist von der Realität. Amerikanische Zuschauer*innen einer bestimmten Generation werden aber sicherlich das eine oder andere wiedererkennen. Der Fall war in den frühen 1990er-Jahren wirklich ein riesiger Skandal, der große Wellen schlug.
Ihr Film deutet vieles an und stellt manches in Frage, aber eine moralische Wertung nimmt er letztlich nicht vor … Das hat mich nicht interessiert. Auch im Fall Letourneau nicht. Ich kann die Faszination schon nachvollziehen, schließlich hatte da eine Lehrerin ein Verhältnis mit einem minderjährigen Schüler und wurde von ihm schwanger. Ihre erste Verurteilung, nachdem die Sache öffentlich wurde, war noch harmlos, einige Monate Haft und therapeutische Behandlung. Aber gegen die Auflage, keinen Kontakt mehr zu dem Jungen zu haben, hat sie sofort verstoßen. Die beiden trafen sich sofort wieder heimlich und hatten Sex. Also musste sie dann doch für komplette siebeneinhalb Jahre ins Gefängnis und bekam dort sogar noch ein zweites Kind von ihm. Vor einigen Jahren starb sie an Krebs, und obwohl die beiden damals längst geschieden waren, begleitete er sie in den Tod. So unangemessen wie die Beziehung begonnen hatte, waren sie sich wohl doch ihr Leben lang die wichtigsten und engsten Menschen. Das wirft natürlich spannende Fragen auf. Auch übrigens was die Perspektive der Öffentlichkeit angeht.
Was meinen Sie? Die Empörung, die ihr entgegenschlug, war sicherlich besonders heftig, weil sie eine Frau war. Auch nachdem sie ihre Strafe abgesessen hatte, wurde ihr nicht verziehen. Wäre es in der Geschichte um einen Mann und eine junge Frau gegangen, hätte sich die Aufregung sicherlich irgendwann gelegt. Oder wäre erst gar nicht so riesig gewesen, schlicht weil man von Männern so etwas fast erwartet und ihnen dann auch zugesteht, dafür Buße zu tun. Mit Frauen geht unsere Gesellschaft da doch sehr anders um.
Hat sich daran in den letzten Jahren, etwa durch die #MeToo-Bewegung, etwas verändert? Ja, sicherlich, zu einem gewissen Grad. Aber nicht genug. Denn wenn wir mal ehrlich sind, hat es doch zusehends den Anschein, als spiele #MeToo nur in einer ziemlich kleinen und elitären Blase wirklich eine Rolle, in der es ein kulturelles Bewusstsein dafür gibt. Darum herum existiert eine ganz andere Welt, in der – um beim Beispiel USA zu bleiben – plötzlich wieder die Freiheit der Frauen in Sachen reproduktiver Gesundheit und Rechte auf dem Spiel stehen, Bücher verbannt und LGBTQ-Rechte eingeschränkt werden. Das zeigt schon sehr deutlich, dass kein noch so feministischer oder anderer Fortschritt, den wir erkämpft haben, auch nur irgendwie garantiert ist.
Kommen wir mal konkret auf „May December“ zu sprechen. Besagtes Paar im Zentrum bekommt Besuch von einer Schauspielerin, die die Hauptrolle in einer Verfilmung des Falles spielen soll. Man weiß oft gar nicht, wessen Geschichte hier eigentlich erzählt wird … Das war es, was mich an diesem Drehbuch am meisten fasziniert hat. Anfangs denkt man, dass Elizabeth, also diese Schauspielerin, unser Weg hinein in diese bizarre Geschichte ist. Dass wir die Story dieser etwas verrückten Gracie und ihres jungen Ehemannes Joes durch ihre Perspektive erleben werden und sie in diesem Szenario die verlässliche Größe ist. Doch mehr wir dann sehen, desto mehr hinterfragen wir Elizabeth und ihre Motive. Plötzlich erkennt man in ihrem Verhalten immer mehr Dinge, die einen an Gracie erinnern. Aber kopiert sie sie tatsächlich bloß oder was geht hier vor? Und was ist, wenn das hier am Ende in erster Linie Joes Geschichte ist?
Die Art und Weise, wie diese Schauspielerin sich in das Leben von Gracie drängt, hat etwas von Vampir, etwas Parasitisches. Empfinden Sie als Geschichtenerzähler auch manchmal so? Nein, ich glaube nicht, dass meine Arbeit als Filmemacher irgendwie vampiristisch ist. Meine Motivation ist ja immer schon die, dass ich eigentlich Geschichten erzählen möchte, die andere nicht für erzählenswert halten. Und selbst wenn es – wie etwa bei „I’m Not There“ und Bob Dylan – dabei mal um eine reale Person und wahre Ereignisse geht, ist es nie meine Intention, mich dem auf konventionelle oder möglichst realistische Weise zu nähern. Elizabeth sagt im Film, dass sie die Wahrheit erzählen wolle. Darum ist es mir als Regisseur noch nie gegangen. Im Gegenteil fasziniert es mich viel mehr, welche filmsprachlichen Mittel mir zur Verfügung stehen, um verschiedene Versionen von Wahrheit zu erzählen. Dass Publikum darf am Ende gerne auf die Suche nach einem existentialistischen Wahrheitskern in der Geschichte gehen. Aber den muss ich ihm nicht auf dem Silbertablett präsentieren.
Sie haben sich immer schon für die Tradition des Melodramas begeistert. Doch dieses Mal spielen Sie auch mit den Konventionen von Seifenopern. Soweit sogar, dass man irgendwann das Gefühl hat, eine Satire zu sehen. Stimmen Sie zu? Verkehrt ist das nicht. Vielleicht könnte man sagen, dass dies meine erste Komödie überhaupt ist. Wenn auch eine wirklich düstere, abgründige, in der auch eine tiefe Traurigkeit steckt. Aber es stimmt schon: das Drehbuch ist an vielen Stellen tatsächlich enorm witzig und geistreich. Wofür es dann nötig war, dass die Schauspieler*innen das alles vollkommen ernst spielen, jede noch so große Geste, jede bizarre Absonderlichkeit. Insgesamt hoffe ich auf jeden Fall, dass das Publikum früher oder später realisiert, dass man in dieser Geschichte lachen und Spaß haben darf. Anderenfalls würde man Ende vielleicht doch allzu verstört dastehen.
Letzte Frage noch zu Julianne Moore, mit der Sie inzwischen seit fast 30 Jahren so regelmäßig zusammenarbeiten wie mit niemandem sonst. Was bedeutet Ihnen diese Arbeitsbeziehung? Es ist das große Glück meines künstlerischen Wegs, dass sich unsere Wege so früh kreuzten und unsere Karriere dann parallel und miteinander entwickelten. Bis heute staune ich über ihre schauspielerischen Fähigkeiten und die Art und Weise, wie sie mit kleinsten Gesten und feinsten Nuancen in der Mimik ganze Bände über ihre Figur erzählen kann. Dass wir obendrein einen ähnlichen Geschmack und kein Interesse am Naheliegenden und Einfachen haben, ist natürlich auch eine wunderbare Gemeinsamkeit. Die Vorliebe fürs Fragile, fürs Gefährliche und Unbekannte, die haben wir von Anfang ineinander erkannt.
*Interview: Jonathan Fink